trailer: Reinhard, wir führen dieses Gespräch im vor fast 20 Jahren gegründeten Unperfekthaus in Essen, eine Adresse für die Kreativszene. Wie steht es denn um diese Branche im Ruhrgebiet?
Reinhard Wiesemann: Beim Unperfekthaus selbst sind es zwei Seiten, die in Hinblick auf die Kreativszene zu erwähnen sind: Inhaltlich läuft es hier sehr erfolgreich. Es ist ein Zentrum für Menschen, die im Ruhrgebiet ihren Projekten nachgehen. Wirtschaftlich läuft es dagegen nicht fantastisch. Aber es ist eine Überzeugungssache: Man braucht so einen Ort, an dem Menschen was tun können, ohne viel zahlen zu müssen.
Woran hakt es wirtschaftlich?
Der Sinn des Hauses ist es, Menschen, die etwas Sinnhaftes tun, Ressourcen, Räume und Technik anzubieten. Wer mit seinem Beruf oder Start-up am Anfang steht, hat jedoch meistens kein Geld. Von denen können wir nicht Preise nehmen wie in einem Seminarzentrum oder Co-Working-Space. Auf der anderen Seite verbinden wir hier diese Nutzer mit Gästen, die ihre Seminare abhalten, weil sie dafür beispielsweise nicht auf ein teures Hotel ausweichen wollen. Diese Menschen können zwar wiederum mehr zahlen. Doch wir können nicht von allen diese Preise erwarten – nur, weil eine Hälfte unserer Gäste in der Lage ist, das zu zahlen. Wir wollen beide Hälften verbinden. Deswegen sind wir hier wirtschaftlich schwierig positioniert.
„Man braucht einen Ort, an dem Menschen was tun können, ohne viel zahlen zu müssen“
Würde eine Adresse wie das Unperfekthaus in Köln oder Berlin besser funktionieren?
Ich bin sowohl in Essen als auch in Berlin unterwegs. Und ich sehe einen riesigen Widerspruch, der ein Stück weit in den Köpfen stattfindet: Viele denken, dass sie nach Berlin müssen, um etwas Kreatives zu starten oder ein Start-up zu gründen. Das führt dort zu einer viel größeren Konkurrenzsituation. Daher ist es für einen Kreativen nicht klug, nach Berlin zu gehen und diesem Massenhype zu folgen. Denn auch das Publikum ist dort überfüttert mit Angeboten. Wir fanden zum Beispiel kein Gebäude für ein Seminarzentrum in Berlin – aufgrund dieser Sättigung. Schließlich wichen wir auf einen Nachbarort aus. In Essen stehen die Türen dagegen offen. Und wenn man hier was starten will: Es gibt massiven Leerstand an Ladenlokalen oder Gewerbeflächen. Die Wirtschaftsförderung oder das Stadtmarketing suchen alle nach Kreativen, die etwas machen wollen; sie unterstützen die Projekte. Für Start-ups sind die Chancen daher in Essen größer als in Berlin.
„Bei den erfolgreichen Unternehmensgründungen der letzten 30 Jahre geht es um soziale Themen“
Du hast als Unternehmer Computer-Hard- und Software entwickelt, bevor Du dich gesellschaftlichen Projekten gewidmet hast – in einer Region, die nach dem Bergbau immer noch eine Identität sucht. In welcher Branche liegt die Zukunft des Ruhrgebiets?
Neulich hörte ich von einem schönen Wort: dem Wärmebergbau, der nach dem Kohlebergbau folgen soll. Aufgrund der vielen Löcher hier im Boden istdiese Region dafür sicherlich prädestiniert. Das könnte eine neue Branche sein, die hier ansässig wird. Was uns aber gerade im wirtschaftlichen Kontext interessiert, ist nicht nur die Technik, sondern ebenso der menschliche Bereich. Schauen wir uns die erfolgreichen Unternehmensgründungen der letzten dreißig Jahre an: Dort ging es – mit Ausnahmen wie z.B. Tesla – weniger um Chemie, Autos oder dergleichen, sondern um menschliche Dinge oder soziale Themen, die einen Mehrwert einbrachten. Das gilt zumindest für erfolgreiche Gründungen wie Facebook, Twitter, Apple oder Google. Alle diese Konzerne führten Geschäfte mit den westlichen Werten – z.B. die ständige Verfügbarkeit des weltweiten Wissens durch Google. Zum Geschäftsmodell von Facebook gehört wiederum eine weitestgehend angstfreie Kommunikation unter den Menschen. Diese Firmen verkaufen also keine Technik, aber verdienen trotzdem ihr Geld.
Wenn wir vor diesem Hintergrund auf Orte wie den Dortmunder Hafen schauen, der mit einem Start-up-Campus innovative Ideen gewährleisten soll: Haben solche Projekte in dieser Region ein realistisches Potential?
Mein Ansatz ist die Vielfalt. Ich glaube nicht an zentrale Systeme, also Gremien oder Zusammenschlüsse, die darüber entscheiden, wer auf welchem Gelände was und wie gefördert wird. Deswegen haben wir im Unperfekthaus ein anderes Prinzip: Die Projekte müssen kreativ, interessant und legal sein. Aber es gibt kein Gremium. Alle machen ihr Ding und dann sehen wir schon, was klappt.
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