In ihrem Kinodebüt „Oi! Warning“ (2000) erzählten die Brüder Benjamin und Dominik Reding in intensiven Bildern vom Erwachsenwerden inmitten der Dortmunder Punk- und Skinhead-Szene. Im Interview spricht Benjamin Reding über den Geruch des damaligen Ruhrgebiets und die künstlerische Auseinandersetzung mit Anderssein.
trailer: Herr Reding, „Oi! Warning“ drehten Sie vor rauen Industriekulissen. Was halten Sie davon, dass am Hafen heute eine große Vermarktung Einzug hält?
Benjamin Reding: Der Hafen war ein wunderschöner Drehort, jetzt ist er leider zerstört. Das Haus mit diesen großen Tanks, in dem wir drehten, gibt es traurigerweise nicht mehr. Bis vor zwei Jahren war dort noch alles unverändert. Dann wurde alles gesprengt. Doch bereits in den Jahren, als wir die Drehorte suchten, war das Ruhrgebiet schon verloren. Es gab dieses Ruhrgebiet aus Stahl und Kohle. Hinzukam dieser Geruch, den man wahrnahm, wenn man am Dortmunder Hauptbahnhof einfuhr: eine Mischung aus Hefe, Weizen und auch das Stählerne, das tatsächlich in der Luft lag und das man auch auf der Lippe schmecken konnte. All das war nicht mehr da, als wir drehten. Das Ruhrgebiet war zu diesem Zeitpunkt ruiniert, es befand sich in einem Dornröschenschlaf. Genau das habe ich für den Film gesucht. Denn die Handlung sollte ja nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt spielen.
„Das Stählerne, das man auf der Lippe schmecken konnte“
„Oi! Warning“ beginnt mit einer Idylle am Bodensee. Von hier flieht der Protagonist nach Dortmund. Wollten Sie durchweg einen Ruhrgebietsfilm umsetzen oder sollte die Region doch in den Hintergrund treten?
Es gibt nurdiesen einen Schwenk über den Bodensee. Diese Szene erhielten wir damals vom Südwestdeutschen Rundfunk. Das Haus befand sich dagegen in Dortmund. Was man sieht, wurde also zu ca. 80 Prozent in Dortmund und Umgebung gedreht – darunter auch die Fiege-Brauerei in Bochum. Die Region war ein Background, aber ein wichtiger. Denn die Figuren leben ja im Ruhrgebiet und sind mit diesem verwachsen. Ich selbst habe auch diesen Ruhrgebietsdialekt sehr gerne. Es ist nämlich sehr schade: Dieser Dialekt wird oft als Vehikel benutzt, um damit Stumpfheit zu demonstrieren.
„Schade: Der Ruhrgebietsdialekt wird oft benutzt, um Stumpfheit zu demonstrieren“
Auch der Film „Für den unbekannten Hund“ spielt im Ruhrgebiet.
Das Ruhrgebiet ist mir ans Herz gewachsen, was Drehorte angeht. Denn diese Region ist so vielschichtig. Es gibt kaum ein Gebiet in Deutschland, wo man für so viele visuelle Motive fündig wird: von Zerstörung über Einsamkeit, Schönheit, bis zur Lieblichkeit. Man kann diese Erscheinungen hier in unmittelbarer Nähe finden und dann losdrehen. Ich würde jedem Locationscout raten, zuerst im Ruhrgebiet nach Drehorten zu suchen, bevor es woanders hingeht. Denn gerade jetzt ist das Ruhrgebiet mit seinen Sorgen, Nöten und Verwerfungen ein guter Nährboden für kreatives und visuelles Arbeiten. Das gilt auch für filmische Auseinandersetzungen mit der Bundesrepublik im Jahr 2023: Das Ruhrgebiet erscheint mir wie ein Brennglas der deutschen Verhältnisse und Filmemacher können hier in dieser Hinsicht aus den Völlen schöpfen. Das meine ich auch nicht negativ. Es geht um die Frage, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. In dieser Hinsicht steckt im Ruhrgebiet viel filmisches Potential.
„Ich würde jedem raten, zuerst im Ruhrgebiet nach Drehorten zu suchen“
„Oi! Warning“ zeigt einen Konflikt zwischen Skinheads und Punks, ohne links- und rechtspolitische Motive hervorzuheben. Wie haben Sie damals diese Subkultur im Ruhrgebiet erlebt?
Diesen Konflikt erlebte ich weniger im Ruhrgebiet, sondern in der gesamten Bundesrepublik – etwa bei Skinhead-Festivals. Im Nachgang zum Film erlebte ich diesen Konflikt dann am eigenen Körper, denn ich wurde deswegen zusammengeschlagen und fand mich mit einer Platzwunde und verletzter Nase in einer Notaufnahme wieder. Es dürfte eine Seltenheit sein, dass ein Regisseur für seinen Film Haue erhielt. Ein Skinhead kam mal auf mich zu und meinte, dieser Film sei gegen die Skinhead-Ehre gerichtet. Auch er wollte mich zusammenschlagen. Zum Glück wurde ich in diesem Fall geschützt. Letztendlich bestätigte der Film damit auf traurige Weise genau das, was wir hinterfragen wollten: Lässt man das Anderssein seiner Mitmenschen zu oder nicht? Konkret, was die Handlung betrifft: Lässt man als Skinhead einen schwulen Punk zu oder geht das gegen die „Skinhead-Ehre“? Genau das war die Botschaft in unserem Film.
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