Im Roman „Keine gute Geschichte“ kehrt eine Frau nach zwölf Jahren in das Brennpunktviertel im Ruhrgebiet zurück, in dem sie aufwuchs. Im Interview sprichtLisa Roy über ihr Debüt und das soziale Gefälle in der Region.
trailer: Frau Roy, Ihr Debütroman greift ein bekanntes literarisches Motiv auf: die Rückkehr an den Ort der Herkunft. Welche Bedeutung hat für Sie in dieser Hinsicht das Ruhrgebiet?
Lisa Roy: Der Roman ist aus einem authentischen Erleben heraus gespeist. Die Handlung hätte ich mir gar nicht vorstellen können, wenn ich diesen Ort nicht aus den 90er-Jahren gekannt hätte. Für mein erstes Buch hätte ich mir auch nicht zugetraut, über irgendeinen anderen Ort einer Kindheit zu schreiben.
Dieser Ort Essen-Katernberg ist bekannt für das Unesco-Weltkulturerbe Zollverein. Wie kam es, dass diese Zechen- und Bergbaukultur bei Ihnen überhaupt keine Rolle spielt?
Ich wollte eine Ruhrgebietsstory erzählen, die nicht zwangsläufig von Zechen handelt. Denn es geht um eine andere Genration. Wenn man als Kind im Ruhrgebiet aufwächst, wird einem diese Zechenkultur zwar als eigene Identität vermittelt. Aber es stimmt ab einer Generation nicht mehr in dem Maße für alle. Um mich herum waren damals noch Kinder, deren Väter unter Tage eine Lehre gemacht oder deren Großväter dort gearbeitet haben. Aber irgendwann rückt diese Vergangenheit weit in die Ferne. Natürlich kann man den Kindern, die heute geboren werden, von der damaligen Arbeit der Großväter erzählen. Aber ich habe die Hoffnung, dass zeitgenössische Ruhrgebietsidentitäten sich auf andere Dinge stützen können.
Trotzdem erwähnen Sie z.B. ein „trauriges Stück Ruhrgebiet“, bevölkert u.a. von „armen Assis“. Was war es also für ein Ruhrgebiet, das Sie wiedergeben wollten?
Für mich lag das Gefühl in der Luft, abgehängt zu sein. Das war mein Eindruck, als ich dort aufwuchs. Und das spiegelt sich auch in den Fakten bzw. gesellschaftlichen Strukturen wider: Die Stadt Essen ist ganz klar zweigeteilt durch die A40. Und es war deutlich spürbar, dass man im Norden an der Grenze zu Gelsenkirchen nicht zu den gesellschaftlichen Gewinnern zählt. Meine Romanprotagonistin Arielle ist z.B. sehr auf ihren Status bedacht. Ihr Blick auf die Mitmenschen in Essen-Katernberg ist daher so hart, weil es ihr um Abgrenzung geht. Ihr ist es wichtig, den sozialen Aufstieg geschafft zu haben. Deswegen fällt ihr Blick auf das Ruhrgebiet deutlich härter aus als meiner.
Inwiefern wollten Sie sich in ihrem Roman mit Klasse und Armut befassen?
Wenn ich aus meinem Buch an Orten wie dem Essener Norden lese, wird mein Roman ähnlich wahrgenommen, wie ich ihn verstanden habe: nicht als Draufschauen auf die Verhältnisse. Wenn ich dagegen in gut situierten Ecken wegen Lesungen unterwegs bin, nehmen die Menschen diese Handlung als viel tragischer wahr, als ich es gemeint habe. Was also gutsituierten Mittelständlern aus dem Reihenhaus tragisch erscheint, kommt mir gar nicht so bemitleidenswert vor. Es ist auch die Frage, wer entscheidet über die Definition von „abgehängt sein“. Wenn sich die betroffenen Leute vor Ort nicht gedemütigt fühlen, warum sollen dann Zahnärzte aus Bonn darüber entscheiden, wie das gute Leben auszusehen hat? Mir ist es jedenfalls wichtig, keine didaktische Kunst zu machen. Ich setze mich nicht hin und schreibe einen Roman, der sich um die großen sozialen Fragen drehen soll.
Trotzdem springen in Essen doch die sozialen Verhältnisse ins Auge.
Gerade in Essen ist es extrem: Die Kinder im Süden gehen aufs Gymnasium, die aus dem Norden nicht. Zwar gibt es Ausnahmen. Aber das soziale Gefälle ist überdeutlich. Es bleibt also nur die Feststellung, dass es strukturell falsch läuft und die Kinder im Norden ohne Chancen geboren werden. Wer das nicht unfair findet, hat kein Herz.
Das verdeutlichen auch die Statistiken: Im Essener Norden oder in Gelsenkirchen beziehen 30 bis 40 Prozent der Menschen Bürgergeld. Warum findet die Armut im Ruhrgebiet anders als jene im ehemaligen Osten kaum Erwähnung im öffentlichen Diskurs?
Über Armut im Osten wird mehr geredet, weil die westdeutsche Presse darüber rätselt, warum dort viele so rechts sind. Das heißt: Es fühlt sich an wie ein gesamtgesellschaftliches Problem, wenn die Menschen in Thüringen oder Sachsen die AfD wählen. Wahrscheinlich gehen vor diesem Hintergrund die Armen aus dem Ruhrgebiet unter.
Lisa Roy: Keine gute Geschichte | Rowohlt Verlag | 240 S. | 22 €
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