Der Autor und Kolumnist Alexander Estis schreibt bevorzugt literarische Miniaturen, die ein Wechselspiel von Witz und Tragik prägt. Im Interview erklärt er, wie er als Dortmunder Stadtschreiber besonderen Wert darauf legt, die hier lebenden Menschen zu Wort kommen zu lassen und wovon es vor allem abhängt, wie Menschen ihre Stadt wahrnehmen.
trailer: Herr Estis, seit Mai sind Sie, wie es offiziell heißt, „Stadtbeschreiber“ von Dortmund. Was gibt es denn hier zu beschreiben?
Alexander Estis: Mich interessieren hauptsächlich die Stimmen und die Erzählungen der Menschen, die hier leben. Denn mein halbjähriger Aufenthalt ist zu kurz, um diese Stadt ganz zu erfassen und den Bewohnerinnen und Bewohnern vorzusetzen, wie ich Dortmund sehe. Dazu gehörte sicherlich eine Prise Selbstüberschätzung. Deshalb interessiert mich sehr, wie die Menschen selbst auf ihre Stadt blicken. Meine Erfahrung ist, dass dies zu einer facettenreicheren Betrachtung führt als mein individueller Blick.
Was haben Sie herausgefunden?
Meine Erfahrung ist,dass sich da keine regionale Spezifik einstellt. Die Menschen in Dortmund sind nicht zwingend anders als die in Berlin. Es hängt eher von anderen Faktoren – etwa der sozialen Schicht – ab, wie die Menschen auf ihre Stadt blicken. Es hat sehr viel mit ihrer unmittelbaren Lebensrealität zu tun, was sie an der Stadt besonders wahrnehmen, was sie für wichtig oder schwierig halten, welche Ängste und Träume sie haben. Mit einer regionalen Mentalität hat das meist weniger zu tun.
„Mich interessieren hauptsächlich die Stimmen und die Erzählungen der Menschen“
Darum dreht sich auch Ihre Projektskizze „Urbane Visionen“. Wie klingt das Feedback der Bürger:innen?
Der Aufruf dazu kam erst kürzlich in der Presse. Daher erhielt ich bisher noch wenige Rückmeldungen. Aber in anderen Städten habe ich ähnliche Projekte durchgeführt, die auf großes Interesse stießen. Dadurch hatten die Menschen das Gefühl, sich einbringen zu können. Ihre Sicht auf die Stadt steht im Vordergrund. Auch wenn es in erster Linie kein politisches Projekt ist, kann es etwa stadtplanerische Nebeneffekte haben. In Köln gab führte die Publikation gewisser Sichtweisen der Menschen dazu, dass sich auch der Blick offizieller Stellen auf bestimmte Orte änderte. Die meisten Menschen haben intime Bezüge zu den Orten, an denen sie leben. Diese Bezüge strukturieren ihr Leben auf drastische Weise. Sobald sie darüber erzählen, wie sie mit der Stadt verflochten sind, wird vieles offenbar, was sonst verborgen bliebe. Man könnte es fast als Stadtpsychologie bezeichnen, die da entsteht – ohne wissenschaftlichen Anspruch natürlich.
„Es gibt große Erwartungen daran, was bleibt oder neugemacht wird“
Was für Bezüge waren es denn, von denen die Menschen erzählten?
Manche Menschen etwa haben zu gewissen Objekten eine außerordentlich nahe Beziehung. Es geht da um Dinge, von denen man auf den ersten Blick annehmen könnte, dass sie hässlich sind und am besten verschwinden sollten. Alte Parkbänke können eine emotionale Verbundenheit auslösen. Es gibt große Erwartungen daran, was bleibt oder neugemacht wird. Es gibt Nostalgien gegenüber Gebäuden, die längst weg sind. Dreißig, vierzig Jahre später stehen sie für manche zumindest imaginär noch immer an der gleichen Stelle. Man hat dann das Gefühl, dass diese Menschen den Wandel nie hätten wahrhaben wollen.
Eine Erkenntnis gerade für das Ruhrgebiet, wo doch gerne die Industrievergangenheit vermarktet wird?
Diese Entwicklung bemerkte ich auch in Köln: Gerade die ehemaligen Arbeiterviertel wurden mit dem Wandel der Bevölkerungsstruktur verändert und zum Teil gentrifiziert. Dieser Wandel hat verschiedenste Effekte ausgelöst – für die einen gute, für die anderen eher schwierige.
„Man kommt an Punkte, an die man als einzelner Autor nie hinkommen würde“
Sie wählen oft literarische Kleinformen, in denen Satire und Ernst verschmelzen. Wie gehen Sie in Dortmund vor?
Wenn ich etwa eine Erzählung oder eine Novelle über Dortmund ablieferte, wäre es ein eher monolithisches Produkt. Mir geht es jedoch um Vielstimmigkeit, also ein Mosaik aus verschiedenen Steinchen, die das Gesamtbild erst entstehen lassen. Dafür eignen sich die kleinen Formen ganz besonders, weil sie die Vielfalt der Sichtweisen und Blickwinkel einer Stadt ausmachen. Mir geht es ebenso um die Eigenheit der Stimmen – mich interessiert nicht nur, was die Menschen sagen, sondern auch wie sie klingen. Von diesem Stil will ich immer etwas beibehalten oder ihn sogar etwas weiterdrehen. So kommt man stilistisch an Punkte, an die man sonst als einzelner Autor nie hinkommen würde. Es hat literarisch etwas Experimentelles. Damit wird man unterschiedlichen Lebensformen gerecht. Wenn man Menschen verschiedenster Herkunft und sozialer Provenienz zuhört und deren eigentümlichen Klang aufgreift, entsteht auch für die Leser eine andere Unmittelbarkeit. Die dargestellten Figuren sind dadurch anders spürbar als im homogenen Autorentext.
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