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Oliver Treib
Foto: Oliver Treib

„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“

26. September 2024

Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union

trailer: Herr Treib, wie sieht die politische Landschaft nach der EU-Wahl aus? [Das Interview fand statt vor der Vorstellung der mutmaßlichen neuen EU-Kommissare am 17.9.; d. Red.]

Oliver Treib: Ich sehe eine relativ starke Kontinuität zum letzten Parlament. Es ist ja überall von einem großen Rechtsruck, von einem Erdrutschsieg für die radikalen Rechten gesprochen worden. Der ist aus meiner Sicht nicht so dramatisch eingetreten, wie das manche vorhergesagt haben. Stattdessen sehe ich relativ viel Konstanz. Die größte Fraktion ist nach wie vor die Europäische Volkspartei, in der auch CDU und CSU Mitglied sind. Wir haben die sozialdemokratische Fraktion, die Liberalen, mit Herrn Macrons Bewegung, und auch weiterhin die Grünen. Das sind die zentristischen Kräfte im Europäischen Parlament, die sind mehr oder weniger gleich stark geblieben. Am meisten verloren haben die Liberalen, insbesondere durch die Schwäche von Macron in Frankreich. Die Grünen haben auch ein bisschen eingebüßt, das hat hauptsächlich mit der relativen Schwäche der Grünen in Deutschland zu tun, die aber bei den letzten Wahlen einen absoluten Höhenflug hatten und jetzt wieder auf Normalmaß zurückgestutzt wurden. Da sich das Parlament aus nationalen Sitzkontingenten zusammensetzt, die nach Ländergröße gestaffelt sind, haben die großen Länder insgesamt mehr Einfluss auf die Größe der Fraktionen, daher der relativ große Einfluss von Entwicklungen in großen Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Das Zentrum des politischen Spektrum ist also relativ konstant geblieben, mit einer gewissen Schwächung der Grünen und der Liberalen, aber da geht es jeweils um drei oder vier Prozentpunkte. Im rechten Spektrum gibt es schon mehr Verschiebungen: Zum einen gibt es die halbwegs gemäßigten europaskeptischen Rechten um die polnische PiS und die Fratelli d'Italia der italienischen Regierungschefin, die sind auch mehr oder weniger gleich stark geblieben. Bei den radikalen Rechten hat sich tatsächlich etwas getan: Sie haben einerseits am meisten dazu gewonnen, haben sich zugleich aber auch gespalten. Die rechten Parteien sind extrem zerstritten. Wenn es um die Beziehung zu Russland oder um den Krieg in Gaza geht, haben sie sehr unterschiedliche Ansichten, deswegen gibt es jetzt zwei Rechtsaußen-Fraktionen. Die Fraktion, die bisher Identität und Demokratie hieß, nennt sich jetzt Patrioten für Europa. Zusätzlich gibt es die kleine Fraktion Europa der souveränen Nationen, die im Wesentlichen aus der AfD und einer kleinen Gruppe von Abgeordneten aus anderen Ländern besteht und gerade so die Hürde für die Fraktionsbildung geschafft hat. Diese Spaltung hat sich schon vor der Wahl angedeutet, weil die AfD bereits vorher aus der Rechtsaußen-Fraktion geworfen wurde. Unter anderem hatte das mit ihrem Spitzenkandidaten Maximilian Krah zu tun, der sich sehr merkwürdig zur Rolle der SS geäußert hat und der auch durch eine Affäre belastet wurde, weil einer seiner Mitarbeiter mit Spionagevorwürfen konfrontiert wurde. Das heißt, wir haben eine Stärkung der radikalen Rechten, aber zugleich auch eine Zersplitterung und ziemlich große inhaltliche Zerstrittenheit. Die Rechten sind sich nur darüber einig, dass sie die EU nicht so toll finden, dass sie mehr nationale Souveränität wollen, aber jenseits dessen ziehen sie nicht an einem Strang. Wenn man noch genauer hinsieht und prüft, welche der rechten Parteien wirklich euroskeptisch, also gegen die europäische Integration eingestellt ist, dann sehen wir einen relativ ähnlichen Anteil der euroskeptischen Rechten wie schon 2014 und 2019. Insofern kann man also nicht von einem Erdrutschsieg sprechen.

„Die alltägliche EU-Politik wird nicht dramatisch anders sein“

Wie wirkt sich diese Konstellation auf die EU-Politik aus?

Sie wird nicht völlig anders aussehen als bisher. Es ist ja so, dass die meisten Entscheidungen von einer informellen großen Koalition aus Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen, zum Teil auch zusammen mit den Grünen, getragen werden. Das wird auch weiterhin so bleiben. Ich erwarte allerdings einen Schwenk in der Umweltpolitik und beim Klimaschutz. Das hängt allerdings weniger mit den radikalen Rechten zusammen, sondern mit einem Strategiewechsel der Europäischen Volkspartei, die schon vor den Wahlen gesagt hat, wir können so nicht weitermachen, wir müssen wieder wirtschaftsfreundlichere Politik betreiben, also weniger Bürokratie durch Klimaschutzmaßnahmen verursachen und wieder mehr für die traditionellen Bauern tun, anstatt weitere Umweltschutzvorschriften zu erlassen. Ich erwarte, dass die EU-Politik in den nächsten Jahren mehr in diese Richtung gehen wird. Das hat sich auch Frau von der Leyen auf die Fahnen geschrieben, weniger aus Überzeugung als aus politischem Realismus, weil sie einfach weiß, dass ihr sonst ihre eigene Fraktion nicht mehr folgen würde. Aber ansonsten würde ich sagen, dass es, was die alltägliche Politik der EU angeht, nicht dramatisch anders werden wird als bisher.

Was hat es mit dem vielfach beklagten „Demokratiedefizit“ der EU auf sich?

Es kommt darauf an, welchen Maßstab man anlegt. Wenn man annimmt, dass die EU den gleichen Ansprüchen genügen sollte wie eine nationale Demokratie, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass sie nicht besonders demokratisch ist. Denn die EU ist im Prinzip ein Misch-System, ein aus Staaten zusammengewachsenes Gebilde, das zugleich versucht, direkte demokratische Legitimation zu erlangen. Bei der Europawahl gibt es keine EU-weiten Parteilisten, stattdessen werden nationale Wahlen abgehalten, in denen man nationale Parteien wählt. Das ist nicht das, was man von einer voll ausgebildeten supranationalen europäischen Demokratie erwarten würde. Auch die Stimmengewichte und Sitzkontingente sind verzerrt: Die kleinen Staaten haben insgesamt viel mehr Gewicht im Europäischen Parlament als die großen Staaten. Eine Stimme, die bei der Europawahl in Deutschland oder Frankreich abgegeben wird, hat viel weniger Gewicht als eine, die in Luxemburg oder Malta abgegeben wird, weil man auch diesen kleinen Staaten einen gewissen Einfluss sichern wollte. Würden sich die Sitzkontingente rein nach der Bevölkerungszahl richten, bräuchte man in Zypern oder Malta gar nicht erst zur Wahl zu gehen, weil das Land gar keinen oder höchstens einen Sitz bekäme. Das sind Verzerrungen, die nicht besonders demokratisch sind. Auch die Kommission ist nicht das gleiche wie eine nationale Regierung – es gibt zwar den Mechanismus, dass der/die Komissionspräsident:in gewählt und auch die gesamte Kommission vom Parlament bestätigt werden muss. Aber es ist nicht so, dass der siegreiche Spitzenkandidat der stärksten Fraktion automatisch Präsident wird. Das haben wir 2019 gesehen, als Herr Weber der Spitzenkandidat der EVP war, aber am Ende ist es Frau von der Leyen geworden, weil die Regierungen bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten ein paar Wörtchen mitzureden hatten. Also, wenn man annimmt, dass die EU so etwas ist wie die Vereinigten Staaten, dann ist sie nicht besonders demokratisch. Aber die EU ist eben mehr als nur dieses supranationale System auf der obersten Ebene, sie besteht auch aus den Mitgliedsstaaten. Und auch die tragen zur Legitimation bei. Die Regierungen haben wichtigen Einfluss auf EU-Entscheidungen, und sie sind über ihre jeweils eigenen nationalen demokratischen Mechanismen legitimiert. Insgesamt würde ich daher dafür plädieren, die EU nicht als „Democracy“ mit nur einem „Demos“, nur einem Volk, zu sehen, sondern als „Demoi-cracy“, also als Demokratie, die sich aus mehreren Völkern zusammensetzt. Wenn das der Maßstab ist, erklären sich auch manche der Verzerrungen, die ich erwähnt habe, denn wenn ein wesentlicher Teil der demokratischen Legitimation von der nationalen Ebene kommt, muss es beispielsweise auch eine Berücksichtigung von kleinen Staaten und einen starken Einfluss der nationalen Regierungen geben. Insgesamt ist die EU also ein recht gut austariertes System direkter europäischer Legitimation und indirekter nationaler Legitimation. Im Rahmen einer Umfrage in sechs verschiedenen EU-Staaten haben wir die Menschen gefragt, was sie an der EU ändern würden, um die Akzeptanz von EU-Entscheidungen zu erhöhen. Dazu muss man wissen, dass man die Menschen in der EU in drei ungefähr gleich große Gruppen einteilen kann. Ein gutes Drittel der Menschen findet die EU gut und ist dafür, die Integration weiter zu vertiefen. Ein weiteres Drittel findet, dass die Integration der EU schon viel zu weit gegangen ist und man wieder mehr nationale Autonomie bräuchte. Und das letzte Drittel ist zufrieden mit dem aktuellen Stand der Integration und will nichts Dramatisches an ihren Kompetenzen ändern. Bei der Frage nach EU-Reformen kam heraus, dass sich klare EU-Befürworter:innen und klare EU-Gegner:innen in vielen wichtigen Fragen uneinig waren, etwa bei der Übertragung von mehr Macht an Brüssel. Über alle Lager hinweg waren die Befragten sich aber einig, dass die Transparenz von Entscheidungen erhöht werden muss. Dieses Gefühl, dass alles irgendwie hinter verschlossenen Türen stattfindet, das ist etwas, wogegen die EU auf jeden Fall etwas tun könnte. Worauf sich die Menschen ebenfalls über die politischen Lager hinweg einigen konnten, betrifft die vielen indirekten Hürden zwischen den Wähler:innen und der europäischen Ebene: Nämlich, dass es eine zusätzliche Beteiligung der Bürger:innen an europäischen Entscheidungen braucht, jenseits der europäischen Wahlen – einen europäischen Bürgerrat oder ähnliches, auch das wird von vielen Menschen befürwortet.

„Auf der europäischen Ebene ist die Parteipolitik nur schwach ausgeprägt“

Sind diese Ideen angemessen, um mehr Transparenz zu erreichen? 

Aus meiner Sicht ist es tatsächlich schwierig, weil das EU-Entscheidungssystem einfach sehr komplex ist, mindestens so komplex wie der bundesdeutsche Föderalismus. Allerdings ist diese Intransparenz in Deutschland weniger problematisch als in der EU. Vermutlich können viele Menschen in Deutschland auch nicht ganz genau erklären, wie Entscheidungen in dem Wirrwarr von Bundes- und Länder-Kompetenzen getroffen werden, in Bildungsfragen zum Beispiel oder bei den Finanzen. In Deutschland haben wir aber den Vorteil, dass es Medien gibt, in denen man sehr viel nachlesen kann. Bei der Politik auf der europäischen Ebene ist diese aufklärerische Funktion der Medien insgesamt schwächer ausgeprägt. Mehr und bessere Berichterstattung über die Politik in Brüssel wäre daher ein Weg, um die Transparenz zu erhöhen. Aber wir haben zusätzlich auch das strukturelle Problem, dass Politik in Deutschland immer recht simpel auf Parteipolitik heruntergebrochen werden kann. Kein Mensch weiß, welche Bund-Länder-Kommission genau für etwas zuständig war, aber man weiß, die Union war dafür oder dagegen, die SPD hat dies gewollt, die FDP hat das gewollt. Die CDU-Ministerpräsidenten sind vielleicht auch mal gegen etwas, das die Bundespartei unterstützt, aber die bundespolitische Parteilogik ist doch in vielen Fragen dominant. Auf der europäischen Ebene ist die europaweite Parteipolitik dagegen relativ schwach ausgeprägt, da gibt es eher eine Gemengelage aus Fraktionen oder Parteibünden und unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Interessen. Als Bürger versteht man daher nicht immer, warum die deutsche CDU mit den französischen Liberalen gemeinsame Sache macht oder die dänischen Sozialdemokraten mit den österreichischen Konservativen. In der EU sind die unterschiedlichen nationalen Prägungen eben deutlich wichtiger als die Länder im deutschen Föderalismus. Die politische Landschaft in Polen ist eine völlig andere als in Deutschland, und die ist wiederum völlig anders als die in Irland oder in Griechenland, deswegen gibt es eine relativ vielfältige Parteienlandschaft auf der europäischen Ebene. In der Vermittlung von EU-Politik gegenüber den Bürgern in Deutschland scheint mir ein wesentliches Problem darin zu bestehen, dass sich die verschiedenen Regierungsbeteiligten oftmals nicht einig sind, wie man sich zu bestimmten Brüsseler Vorschlägen positionieren soll, sodass eine Kakophonie von entgegengesetzten Argumenten entsteht, und das führt bei den einfachen Bürgern nicht unbedingt dazu, dass sie leicht nachvollziehen können, worum es in der EU geht. Es wäre hilfreich, wenn man innerhalb der Regierung eine klare Position entwickeln und den Menschen in einem frühen Stadium sagen würde: Das ist jetzt die Position der deutschen Bundesregierung und die fechten wir durch. Das machen Länder wie Schweden oder Dänemark, früher auch Großbritannien, als es noch Mitglied war, sehr gut. Wenn man das nach außen kommuniziert und am Ende sagt: okay, das ist das, was wir erreichen konnten, und hier mussten wir Kompromisse eingehen, dann wäre das ein Beitrag, um den Menschen besser zu vermitteln, was auf der europäischen Ebene passiert. In Deutschland herrscht da sehr viel Unordnung, es wird wenig koordiniert, die Ministerien kämpfen gegeneinander. So kommt es dann dazu, dass in letzter Minute ein Paket noch einmal aufgeschnürt wird, weil ein FDP-Minister plötzlich feststellt, dass er nicht gut findet, was der Kollege von den Grünen da befürwortet hat. Solche Dinge führen sowohl bei den Partnern auf der europäischen Ebene zu Unmut als auch bei den Bürgern. 

„Der Brexit ist ein heilsamer Prozess gewesen“

Dieses Gegeneinander gibt es ja durchaus auch auf der europäischen Ebene. Einzelne Akteure zeigen kaum Interesse an Einigkeit. Wie ist z.B. Victor Orban beizukommen, der „europäische Werte“ untergräbt?

Das ist tatsächlich die Hunderttausend-Euro-Frage. Wenn die Erwartung ist, dass die EU effektiv dafür sorgen soll, dass Ungarn oder andere Problemländer wie bis vor kurzem Polen auf den Pfad der Demokratie zurückkehren, dann überfordert das die EU massiv. Wir haben gerade über die relativ prekäre direkte demokratische Legitimation der EU gesprochen. Das ausführende Organ für solche Fälle ist die Europäische Kommission, und die ist demokratisch sehr schwach legitimiert. Wenn diese Europäische Kommission einem durch viele Wählerstimmen legitimierten Ministerpräsidenten wie Herrn Orban vorschreiben will, wie er handeln soll, ist das problematisch. Leute wie Orban wissen das natürlich und sie betreiben damit effektiv Propaganda, damit machen sie national sehr viele Punkte. Die Sanktionen der EU gegen Polen oder Ungarn haben so eher zu einer Stärkung der abtrünnigen Regierungen geführt. Das heiße ich natürlich nicht gut, aber es zeigt, dass die EU als solche nicht die Legitimation und die Instrumente in der Hand hat, um solche Entwicklungen umdrehen zu können. Sie kann natürlich auf bestimmten Ebenen Einfluss ausüben und sagen, wir können Orban vielleicht nicht aus dem Amt jagen, aber wir müssen auch nicht sinnlos Geld nach Ungarn pumpen, das Orban dann in dunklen Kanälen verschwinden lässt. Seit einigen Jahren gibt es deshalb das Prinzip, dass rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden müssen, wenn man weiterhin EU-Fördergelder bekommen möchte. Damit kann man Druck ausüben. Gleichzeitig hat Orban natürlich auch Erpressungspotential, dann nämlich, wenn seine Stimme gebraucht wird. Echte europäische Sanktionen lassen sich auf diese Weise schlicht nicht durchsetzen. Wenn Ungarn wieder eine vollständige Demokratie werden soll, dann muss das aus Ungarn selbst kommen. Genauso wie in Polen: Die polnischen Wähler haben die PiS-Regierung abgewählt, nicht die Europäische Kommission oder die deutsche Bundesregierung. Natürlich ist Ungarn keine reine Demokratie mehr, aber es ist auch nicht Nordkorea. Wenn es sich dahin entwickeln würde, müsste man irgendwann darüber nachdenken, ob es nicht auch eine Beendigung der Mitgliedschaft geben müsste, aber das ist rechtlich bisher völlig unbeschrittenes Terrain.

Mit Großbritannien hat erstmals ein Mitglied den Staatenbund freiwillig wieder verlassen – mit zweifelhaftem Erfolg. Was zeigt das Beispiel des Brexits?

Die Lust, aus der EU auszutreten, ist mit dem Brexit in allen anderen Ländern dramatisch gesunken. Die Partei von Herrn Wilders in den Niederlanden ist, glaube ich, eine der wenigen, die wirklich noch aus der EU austreten will. Selbst die AfD nimmt zu dieser Frage mittlerweile eine ziemlich halbgare Position ein, indem sie sagt, eigentlich müsste die EU radikal verändert werden, und wenn das nicht klappen sollte, muss man über einen Austritt nachdenken. Aber es ist überall wahrgenommen worden, dass der Austritt tatsächlich sehr viele wirtschaftliche Nachteile mit sich bringt, deswegen gibt es kaum mehr ernstzunehmende Parteien, die das wirklich zu ihrem Hauptziel erklären. Le Pens Partei, die Lega Nord, alle wollten sie irgendwann einmal austreten, aber denen ist tatsächlich klar geworden, dass das kein sinnvolles Ziel ist. Dafür ist der Brexit ein heilsamer Prozesse gewesen, auch wenn es für die Bürger:innen Großbritanniens ein sehr schmerzhafter war und ist. Aber an diesem Beispiel zeigt sich, dass die EU trotz der Kritik, die häufig an ihr geübt wird, erstaunlich gut Probleme löst, die die einzelnen Staaten für sich genommen nicht mehr effektiv bewältigen können. Das gilt allen voran für den Binnenmarkt. Norwegen oder die Schweiz sind keine EU-Mitglieder, aber im Rahmen des Binnenmarkts kooperieren sie wirtschaftlich sehr stark mit der EU. Großbritannien wollte aber auch aus dem Binnenmarkt austreten. Somit ist es eines der Länder in Europa, die wirtschaftlich am wenigsten mit der EU zusammenarbeiten, und das merkt man. Es ist nicht nur ein Gerücht, dass die Lebensmittelversorgung unter dem Brexit gelitten hat, und so bleiben die Regale in den Supermärkten eben auch mal leer. Mit dem Brexit ist die Option des Austritts als realistische Option tatsächlich weggefallen, und die euroskeptische Rechte ist umgeschwenkt von echter Europagegnerschaft hin zum Ziel eines „Europas der Vaterländer“, in dem es immer noch die EU geben würde, aber eben eine EU, die den Mitgliedstaaten sehr viel mehr nationale Autonomie gewährt.

„Die EU soll die Bürger vor den globalen Bedrohungen von Außen schützen“

Könnte der europäische Gedanke in Zeiten der „Multikrise“ wieder attraktiver werden, z.B. angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen Machtblöcken? 

Auch dazu haben wir in unserer Umfrage Erkenntnisse gesammelt. Die populärsten Politikfelder, in denen die EU nach den Wünschen der Menschen aktiv werden sollte, sind die großen, transnationalen, grenzüberschreitenden Problematiken: Der Klima- und Umweltschutz, Migrationsfragen, die politisch gesehen am anderen Ende der Links-Rechts-Skala angesiedelt sind. Sicherheit und Terrorismusbekämpfung waren ebenfalls relativ populär. Unsere Befragung ist schon ein paar Jahre her, inzwischen würde wahrscheinlich auch die Gewährleistung von Sicherheit gegen militärische Bedrohungen eine größere Rolle spielen, angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die EU soll also primär große grenzüberschreitende Probleme bekämpfen und die Bürger vor den globalen Bedrohungen von außen schützen. Die Frage ist dann immer noch, welche konkreten Ziele in den einzelnen Feldern verfolgt werden sollen, und da sieht man dann wieder, dass sich politische Gräben auftun: Die einen würden nichts lieber tun, als eine Festung Europa aufzubauen und sämtliche Geflüchtete in nordafrikanischen Ländern in Lager internieren. Die anderen sagen, das geht überhaupt nicht, es gibt humanitäre Standards und wir brauchen offene Grenzen für Verfolgte. Beim Klimaschutz ist es ähnlich: Alle sagen, es muss etwas getan werden, aber wenn es darum geht zu entscheiden, wie einschneidend, wie teuer, wie schnell das alles gehen soll, sind sich wieder alle uneinig. Ich würde sagen, es ist klar, dass die EU an diesen Fronten gefordert ist. Alles Weitere ist davon abhängig, wie geschickt man das mühsame Geschäft der Kompromissfindung betreibt, des Ausgleichs von Interessen und des Schnürens von Paketlösungen, bei denen für alle etwas dabei ist. Ich bin sicher, dass die EU daran gemessen wird, wie effektiv sie dabei ist. Wir haben in unseren Umfragen festgestellt, dass die Bevölkerung tatsächlich immer noch das alte Narrativ unterstützt, dass die EU Legitimation gewinnt, indem sie Probleme löst, indem sie Wohlstand generiert, indem sie die Nutzung von Handys im Urlaub erleichtert oder Verbesserungen der Umwelt bewirkt. Das spielt in der EU nach wie vor eine wichtige Rolle und deswegen ist ein sinnvolles Management dieser Krisen ein wesentlicher Punkt, für den die EU auch zur Verantwortung gezogen wird.

„Die EU muss gar nicht alles regeln können, was uns umtreibt“

Wie könnte sich die EU auf längere Sicht entwickeln?

Darauf habe ich eine wahnsinnig langweilige, aber trotzdem aus tiefer Überzeugung vorgebrachte Antwort: Ich würde gar nicht so dramatisch viel an der EU ändern, gerade vor dem Hintergrund, dass es sich um ein System handelt, das nationale und europäische Kräfte auszutarieren versucht. Alle groß angelegten Reformen, die immer mal aufs Tapet gebracht werden, wie etwa eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten oder europaweite Volksabstimmungen – all das würde die Idee der „Demoi-cracy“, über die wir vorhin gesprochen haben, aus der Balance bringen. Meistens würden solche Reformen zu einem massiven Machtzugewinn der europäischen Ebene führen. Eine direkt gewählte Kommissionspräsidentin hätte ungleich viel mehr demokratische Legitimation als jetzt. Sie könnte dann auch mit viel mehr Macht gegen nationale Regierungen und gegen das Europäische Parlament vorgehen. Insofern wäre das eine konstitutionelle Revolution mit unkalkulierbaren Folgen, die vermutlich mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen würde. Ich glaube, wir sollten lieber bei diesem austarierten System bleiben, sollten aber tatsächlich an den Stellen, an denen es möglich ist, mehr Transparenz und mehr direkte Bürgerbeteiligung anstreben. Vielleicht braucht man tatsächlich so etwas wie einen dauerhaft eingerichteten europäischen Bürgerrat, der aus einfachen Bürger:innen zusammengesetzt ist und sich mit aktuellen Themen der europäischen Politik befassen kann. Dieser Rat müsste auf jeden Fall selbst entscheiden dürfen, mit welchen Themen er sich auseinandersetzt und mit welchen nicht. Und er könnte aus meiner Sicht nicht das entscheidungsgebende Gremium sein, aber als beratendes Gremium könnte er neue Ideen einbringen und den Eindruck bestärken, dass die EU-Politik direkter demokratisch legitimiert wäre. Aber auch das wäre nur eine graduelle Verbesserung, fundamentale Veränderungen der EU-Architektur sind weder realistisch noch wünschenswert, denn so schlecht funktioniert die EU ja gar nicht: Sie hat in allen Krisen der vergangenen Jahre gezeigt, dass sie zwar nicht die letztgültigen Antworten findet, durch die sich schlagartig alle Probleme in Luft auflösen, aber fähig ist, kreative Maßnahmen zu ergreifen, die uns einer Lösung der Probleme näher bringen. Die Finanzkrise ist irgendwie überwunden worden, bei Corona hat man mit der Impfstoffbeschaffung einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie geleistet usw. Damit sollte man einfach weitermachen und nicht ständig die Sinnfrage stellen oder unrealistische Erwartungen an die EU stellen. Die EU muss gar nicht alles regeln können, was uns umtreibt. Es gibt auch noch ein legitimes Feld für nationale Politik, und dort sollte sich die EU eher zurückhalten, bei der Sozialpolitik zum Beispiel. Da gibt es im europäischen Vergleich große nationale Unterschiede und die sollen auch weiter bestehen bleiben. Die einzelnen Staaten sollen ihre Bürger mit unterschiedlichen Instrumenten und auf unterschiedliche Weise unterstützen, das muss nicht die EU einheitlich machen. Die EU soll sich um die großen transnationalen Themen kümmern, das tut sie auch, und darin ist sie auch gar nicht so unerfolgreich. 

Interview: Christopher Dröge

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