trailer: Herr Fichter, warum trauern Menschen verschwundenen Geschäften in der Innenstadt hinterher?
Christian Fichter: Es ist zum Teil ein Verlust an Convenience [Bequemlichkeit; d. Red.]. Der Zugriff ist nicht mehr so praktisch. Man hat im Kopf einen bestimmten Laden, bei dem man etwas Bestimmtes kaufen kann. Oft geht es um ein Problem, das man durch den Kauf eines Gutes bei einer Dienstleistung lösen möchte. Aber das geht auf einmal so nicht mehr. Stattdessen muss man jetzt ganz unpraktisch nach Alternativen suchen, typischerweise im Internet. Und das braucht einfach einen Anpassungsaufwand. Doch Menschen sind Meister darin, sich anzupassen. Am Anfang ist es auf jeden Fall eine kleine Hürde, die da überwunden werden muss. Das ist aber gar nicht schlimm.
„Zeichen der Veränderung“
Was genau lässt die Menschen sentimental werden?
Das Praktische ist ja nur das eine. Das andere ist aber: Es ist ein Zeichen der Veränderung. Und Veränderung als solche wird nicht immer als positiv erachtet. Teilweise schon. Aber obwohl Menschen Meister im Anpassen sind, so ist das Anpassen doch auch immer eine Leistung, die einen gewissen Aufwand erfordert. Man spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch vom Anpassungsdruck. Und dann gibt es noch ein drittes Stichwort, was mir hierzu einfällt, und zwar die Nostalgie.
„Junge Menschen müssen signalisieren, dass sie die neuesten Mittel und Wege kennen“
Gibt es Menschen, die diesen Anpassungsdruck besser aushalten als andere?
Ja, absolut. Zu allererst gibt es Unterschiede im Alter: Jüngere Personen können sich leichter anpassen als Ältere. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn man sich schon jahrelang auf eine Welt eingestellt hat, dann wird jede Anpassung in der Zukunft schwerer. Das heißt nicht, dass es unmöglich ist – überhaupt nicht. Im Gegenteil: Die Neurowissenschaften sprechen hier von Neuroplastizität, die bis ins allerhöchste Alter gegeben ist. Aber sie ist auch verbunden mit einem größeren Aufwand. Also, diese Plastizität will erkauft werden. Sie kostet uns Energie und Aufwand. Deshalb sind insbesondere Personen, die schon ein bisschen älter sind, zwar noch in der Lage, sich anzupassen, aber sie sind nicht unbedingt motiviert dazu. Als junger Mensch ist es quasi eine soziale Norm, dass man immer die neuesten und die jüngsten Möglichkeiten ausprobiert. Ich glaube: Es ist einfach auch eine Stärke der kulturellen Entwicklung. Junge Menschen müssen signalisieren, dass sie die neuesten Mittel und Wege kennen und auch nutzen – einfach um dazuzugehören. Sicherlich hat es auch was mit Gruppendruck zu tun, obwohl es auch mal so sein kann, dass bestimmte Anpassungen auch gar nicht so gut sind. Heute kauft man Kleider zum Beispiel überwiegend online, gerade jüngere Menschen. Aber praktisch ist das eigentlich nicht unbedingt. Es wäre doch viel praktischer, in die Stadt oder in ein Geschäft zu gehen, indem man alles direkt vor Ort anprobieren kann. Ich glaube, dass es auch da eine Renaissance geben wird. Dieses ständige Hin- und Hergeschicke mit diesen Plastikbeuteln, Kleider auspacken, anziehen, zurückschicken, weil es nicht passt oder gefällt, ist eigentlich eine unvorteilhafte Anpassung.
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Und wenig nachhaltig …
Klar, und auch unsozial. Sich die Dinge bloß nach Hause schicken zu lassen, ist doch eigentlich eine traurige Sache. Früher, als ich noch jung war, hat man in den Städten oder Läden Gruppen junger Menschen gesehen. Und es haben sich nicht nur junge Menschen dort getroffen. Da war das Einkaufen ein sozialer Anlass.
Kann Nostalgie uns helfen, mit rasanten Veränderungen besser umzugehen?
Ja, ganz genau. Es gibt in der Psychologie tatsächlich Nostalgie-Forschung. Nostalgie wird dort als ein positives Gefühl anlässlich einer Erinnerung an die Vergangenheit beschrieben, d.h., man stellt sich einen schönen Ort, ein schönes Erlebnis oder eine soziale Situation vor, die vergangen ist und die man gerne wieder hätte. So gesehen hat Nostalgie einerseits stressprotektive Funktionen, kann entspannen, und andererseits kann Nostalgie auch ein bisschen eine Blaupause dafür sein, wie man die eigene Zukunft gestalten möchte. Also was man gerne wieder erleben möchte, was man in seinem eigenen Leben haben und was man geben möchte.
„Wir werden schutzbedürftiger“
Neigen wir in Krisenzeiten zu nostalgischer Verklärung?
Ja. In Krisenzeiten funktionieren wir ein bisschen anders als sonst. Wir werden schutzbedürftiger, suchen Anschluss an andere Personen und besinnen uns auf klassische, traditionelle Werte. Nostalgie ist natürlich genau das. Die nostalgische Erinnerung ist angenehm. Typischerweise erinnert man sich an etwas Soziales oder an etwas, wobei man Geborgenheit, Schutz und Verbundenheit erleben durfte. Beispielsweise an Läden oder Geschäftszonen, in denen man früher mal mit seinen Kollegen oder Freunden einkaufen war, Jeans anprobiert und nachher noch Fastfood konsumiert hat. Das sind die nostalgischen Erinnerungen der heute 40- bis 50-jährigen.
… zu denen man sich auch noch Anekdoten erzählen kann ...
Genau.
„Das Ladensterben gehört dazu“
Reicht unser Nostalgiegefühl aus, um Traditionsgeschäfte am Leben zu erhalten?
Nein, aber es kann auf jeden Fall eine Komponente sein, die dazu beiträgt, dass ein paar Traditionsgeschäfte überleben oder noch eine Weile weiterleben dürfen. Die Welt verändert sich. Die Welt des Konsums ebenso. Online-Shopping ist auch einfach praktischer. Dass es bestimmte Läden einfach nicht mehr gibt hat auch Vorzüge, weil es beispielsweise diese Produkte nicht mehr gibt oder kein Bedürfnis mehr nach bestimmten Produkten und Dienstleistungen besteht. Daher ist das Phänomen normal, das man in der Schweiz als „Läderli-Sterben“ bezeichnet, also das Ladensterben – es gehört zum Prozess dazu. Die Wirtschaft – genau wie der Mensch – wandelt sich und passt sich an. Und der Wunsch, mal wieder in einem alten Geschäft einzukaufen oder einfach nur dort hinzugehen, um dort in Erinnerungen zu schwelgen, vielleicht haptische oder sinnliche Erfahrungen zu machen, wird von vielen Konsumenten wieder verspürt, gerade aktuell. Jetzt haben wir ein paar Jahre lang Online-Shopping erlebt. Die Pandemie hat es wahrscheinlich noch verstärkt. Doch ich denke, dass es in den nächsten Jahren in bestimmten Bereichen punktuell auch wieder Geschäfte geben wird, die blühen können. Aber sicherlich nicht mehr so wie es vor dem Aufkommen von E-Commerce und Online-Shopping war.
Das spricht auch für eine zerrissene Konsumidentität.
Genau, also zerrissen einerseits dadurch, dass man sein Konsumverhalten vielfältig lebt. Man hat beide Möglichkeiten: On- und Offline einzukaufen. Und viele Konsumenten machen das genau so. Teilweise wird es auch kombiniert, sprich, dass man online recherchiert und dann offline kauft oder umgekehrt – je nach Produktkategorie und Person. In diesem Zusammenhang würde ich nicht das Wort „zerrissen“, sondern vielleicht „angepasst“ oder „flexibel“ verwenden. Doch ich würde sagen, die Konsumidentität ist insofern zerrissen, als dass man sich einerseits eine Möglichkeit für sinnliche Erfahrungen beim Einkaufen wünscht, für soziale Erfahrungen, für eine Begegnungssituation, aber dann doch wieder online kauft. Das passiert dann dort, wo es mit einem Mausklick geht, es also einfacher und typischerweise auch billiger ist. Wir sind Menschen. Wir haben verschiedene Motivstrukturen in uns drin. Und die sind zum Teil auch im Widerstreit miteinander.
„Online lassen sich die Dinge nur sehr schlecht prüfen“
Wie ließe sich Online-Shopping mit Offline-Shopping verbinden?
Auf einer persönlichen individuellen Ebene kommt es sicherlich darauf an, welche Vorlieben man hat. Eine allgemeine Aussage kann man dazu nicht treffen. Das muss jeder für sich selbst entscheiden und spüren, an welcher Stelle es der Person wichtig ist, ein Produkt vorher zu erleben. Man spricht in diesem Kontext beispielsweise von der Prüfqualität eines Produktes. Online lassen sich die Dinge nur sehr schlecht prüfen. Zwar gibt es Erfahrungsqualitäten, die von anderen Käufern mitgeteilt werden, aber es ist nicht das Gleiche wie es selbst in der Hand zu halten. Wahrscheinlich ist es zukünftig so, dass die meisten Konsumentinnen und Konsumenten Convenience-Produkte vor allem online kaufen werden. Gemeint sind Produkte, die ihnen nicht viel bedeuten oder auf die sie nicht so viel Wert legen wie Fast-Moving-Consumer-Goods (FMCG), also Zahnpasta, Klopapier oder Mineralwasser. Aber bei Produkten, in die man ein bisschen mehr investieren möchte, also mal ein Sofa oder ein Auto – solange man noch Autos kauft – wird es sicherlich so sein, dass viele Personen auch in Zukunft noch Läden bevorzugen. Um Konsumenten also sowohl online wie auch offline anzusprechen, also in diesem bivalenten Einkaufsverhalten abzuholen, würden sich vor allem Läden anbieten, in denen es nicht um Standardprodukte geht und tendenziell um höherpreisige Segmente. Solche Ladenkonzepte, die beides kombinieren oder die nur offline existieren, haben vor allem eine Chance. In alles andere würde ich im Moment nicht investieren.
„Wir können zwar digital funktionieren, aber wir funktionieren digital anders“
Sollten Konsument:innen sich auch selbst hinterfragen, um sich besser auf Konsumveränderungen einstellen zu können?
Ja. Man sollte sich sowieso als Konsument mit seinem eigenen Verhalten auseinandersetzen. Man hat so nämlich erstens die Möglichkeit, etwas für die Umwelt zu tun. Zweitens kann man etwas für seine soziale Umgebung tun: Man kann Freunde treffen, neue Personen kennenlernen oder einfach ganz anonym unter Menschen gehen und sich in der Gesellschaft bewegen. Genau wie das Waldbaden ist es für viele Menschen einfach wichtig, dass sie noch in echten Kontakt mit anderen menschlichen Lebewesen treten. Drittens ist die eigene Konsumerfahrung meiner Einschätzung nach nicht nur befriedigender emotional und sinnlich, sondern auch stimmiger, wenn man eben nicht immer nur online einkauft. Menschen sind analoge Wesen. Wir können zwar digital funktionieren, aber wir funktionieren digital anders. Ich würde sogar sagen in vielen Bereichen nicht gleich gut. Man spricht hier in der Psychologie von „embodied cognition“, also von verkörperlichtem Denken oder verkörperlichter Wahrnehmung. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass man auf Papier besser lesen und schreiben kann als auf digitalen Geräten. Das gleiche Erleben haben wir auch beim Einkaufen: Bei Konsument:innen funktioniert der ganze Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsapparat einfach besser, wenn sie vor Ort sind und Produkte anfassen und angucken können.
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