Der Bürgermeister von Düsseldorf schäumt vor Wut. Wenn Oberhausen nicht bald seine Finanzen in Ordnung bringt, dann muss jene Stadt eben wieder ihre alte Währung einführen. In der Metropole am Rhein möchte man nicht weiter für die Misswirtschaft an der Emscher bezahlen, heißt es in einer geharnischten Presseerklärung. Und wenn Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg nicht aufpassen, dann droht denen das gleiche Schicksal. In Oberhausen wurde inzwischen ein Drittel der Stadtbediensteten entlassen. Gleichzeitig wurden alle kommunalen Steuern drastisch erhöht. Doch all diese Maßnahmen greifen nicht. Durch den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Abwanderung der letzten großen Firmen wächst das Haushaltsdefizit rapide.
Natürlich ist diese Vision eines auseinanderfallenden Nordrhein-Westfalens fast frei erfunden. Würden wir aber ein geeinigtes Europa als genauso eine Selbstverständlichkeit begreifen wie eine geeinte Region und eine geeinte Nation, Politiker würden gar nicht auf die Idee kommen, südeuropäischen Ländern unsere Hilfe zu verweigern, den Staatsbankrott zu empfehlen oder sie aus der gemeinsamen Währung auszuschließen . Warum also ist das Modell NRW nicht auf den Euro-Raum zu übertragen? Der Gedanke eines geeinten Europas verliert in weiten Teilen der Bevölkerung und auch bei vielen Politikern bei wachsenden Schwierigkeiten weiter an Zustimmung. Dabei macht es das Ruhrgebiet seit Jahren und Jahrzehnten vor. Das Nebeneinander verschiedener Lebensstandards und kultureller Identitäten ist zwischen Duisburg und Dortmund Realität. Schon während des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 verglich man den Pott mit Europa. Der kleine und der große Schmelztiegel sollten sich gegenseitig inspirieren. Ein großer Unterschied ist trotzdem auszumachen. Während das Ruhrgebiet über eine übergeordnete Regierung verfügt, ist Europa mit einem fast machtlosen Parlament, einer fast machtlosen Europäischen Kommission und einigen egomanischen Regierungschefs ausgestattet. Die Vereinigten Staaten von Europa, eine Fiktion, die in der Nachkriegszeit für viele eine Alternative zur Kleinstaaterei war, verliert an Strahlkraft. Das Böse – diese Tendenz ist in politischen und ökonomischen Krisenzeiten oft zu beobachten – findet der Deutsche jenseits seiner Staatsgrenze. Der faule Grieche, der korrupte Italiener, der unterentwickelte Portugiese, der bankrotte Spanier, sie alle bedrohen unsere stabile Wirtschaft.
Wie Monopoly: Du hast kein Geld mehr, und der Nachbar baut auf der Schlossallee ein Hotel
Hört man sich bei Menschen aus dem Ruhrgebiet um, die aus südeuropäischen Ländern stammen, erhält man aber ein differenzierteres Bild. Natürlich gibt es auch innerhalb jenes Personenkreises Menschen, die über die Verhältnisse am Mittelmeer klagen. Korruption, Steuerhinterziehung, ein aufgeblähter Staatsapparat, all diese Gründe für die Schuldenkrise in den südeuropäischen Staaten werden auch von vielen Menschen, die von dort stammen, gesehen und oft sogar noch vehementer kritisiert. Aber auch andere Gründe für die drohenden Staatspleiten werden vorgebracht. Den Gesprächspartnern ist eines allerdings gemein, sie wollen nicht mit ihrem Namen zitiert werden. Zu groß ist wohl noch immer die Scham der einstigen Arbeitsemigranten und deren Nachkommen, ihr einstiges Gastland, in dem sie jetzt heimisch geworden sind, offen zu kritisieren. Ein Dortmunder Pizzeria-Besitzer gibt zu bedenken, dass Deutschland in Sachen Korruption in den letzten Jahren gut aufgeholt hat. Vielleicht ist das kleine Bakschisch über den Amtstresen hier nicht so verbreitet wie in Sizilien, die Schmiergelder fließen, wenn sie denn fließen, in Strömen – so seine Einschätzung. Gerade in der Rüstungsindustrie würden zur politischen Landschaftspflege Millionen unrechtmäßig ihren Besitzer wechseln. Und gerade die Griechen, verteidigt der gebürtige Bochumer mit italienischen Wurzeln seine Nachbarn auf der anderen Seite des Ionischen Meeres, hätten nicht zuletzt so ein horrendes Staatsdefizit, weil sie so viele Panzer aus Deutschland gekauft haben. „Kraus-Maffei, Rheinmetall, denen ermöglichen wir Steuerzahler nun, dass sie ihre Rechnungen bezahlt bekommen.“ Ein türkischstämmiger Kaufmann aus Essen freut sich zunächst einmal etwas hämisch über die Probleme, mit denen gerade Griechenland zu kämpfen hat. Froh ist er, dass die Türkei nicht in der Europäischen Union ist und auch nicht in der Euro-Zone. „In Istanbul boomt die Wirtschaft, und in Athen werden die Rollläden runtergelassen.“ Dann aber wird der Geschäftsmann doch nachdenklich. „Es erinnert an das Ende eines Monopoly-Spiels. Du hast kein Geld mehr, hast alles verkauft oder verpfändet, und dein Nachbar baut auf der Schlossallee ein Hotel. Du hast keine Chance mehr.“ Ein gebürtiger Pole aus Duisburg, dessen Heimatland ja noch nicht im Euro-Raum gelandet ist, erinnert an die Schwierigkeiten der deutschen Vereinigung. „Wir haben Milliarden in den Osten gepumpt. Und nun wollen wir die Krisenstaaten im Süden im Stich lassen?“ Vielleicht sollten die Politiker in Berlin und Brüssel mal durchs Ruhrgebiet touren. Inspirationen sind hier an jeder Ecke zu haben.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Es wird am Euro gezündelt“
Sven Giegold über die Währungskrise in Europa – Thema 11/11 Der Euro
„Die Zukunft liegt im Euro“
Christof Lützel über Euro- und Bankenkrise aus Bochumer Sicht – Thema 11/11 Der Euro
Argumente statt Polemik
Günter Leußler aus Mülheim engagiert sich in der deutsch-griechischen Gesellschaft – Thema 11/11 Der Euro
Das Online-Hellas
Dimitrios Zachos betreibt eine Internetplattform für Griechen in Bochum – Thema 11/11 Der Euro
Werben fürs Sterben
Teil 1: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 1: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Der andere Grusel
Teil 1: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Wildern oder auswildern
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 2: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 1: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Durch dick und dünn
Teil 2: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 1: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
Sinnvolle Zeiten
Teil 2: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen