trailer: Herr Gaum, können Sportgroßereignisse den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken?
Christian Gaum: Jetzt muss ich sofort sagen: Ja, klar. Das wäre ja auch im Prinzip die Antwort, die jetzt zu erwarten wäre. Die Sportpolitik, auch große Verbände, selbst Vereine arbeiten gerne mit diesem Label, dass sportliche Großveranstaltungen gerade auch im Bereich Spitzensport, eine Gesellschaft zusammenschweißen können. Sie bringen damit Menschen zusammen, natürlich vor Ort im Stadion, aber vor allem auch darüber hinaus, auf den Tribünen und an den Endgeräten. Menschen fiebern mit dieser Faszination des sportlichen Wettkampfs mit und das stärkt den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft. Das ist eine lange bestehende, immer wieder so dargebotene und angenommene Funktion des Spitzensports. Ob sie aber zutrifft, ist aus wissenschaftlicher Sicht unklar. Und da muss ich sagen: Es ist fragwürdig, ob das überhaupt in dem Maße passiert, zumindest in dem Ausmaß, wie es häufig tituliert oder angenommen wird.
„Menschen sind kurzzeitig mitgerissen von diesem Ereignis“
Ist das etwas, was eher kurz andauert oder etwas, das auch eine Tiefenwirkung entfaltet?
Es zeigt sich im Sinne empirischer Forschung, dass solche Effekte kurzfristig, oft während oder auch kurz nach solchen Events nachweisbar sind und dann wieder verschwinden. Zumindest gibt es überhaupt keinen Grund anzunehmen, sie blieben langfristig erhalten. Das müssen wir mit einem riesigen Fragezeichen versehen. Es scheint eher so zu sein: Menschen sind kurzzeitig mitgerissen von diesem Ereignis und dann ebbt das recht schnell wieder ab. Eine vielleicht etwas nüchterne Erklärung wäre, dass es viele andere, oftmals wichtigere Dinge im Leben als Sport gibt. Als Sportpädagoge muss ich anerkennen, dass solche Begeisterung an Sportgroßereignissen recht schnell wieder vorbei ist und der Alltag die Menschen einholt.
Beim konkreten Event: Da gibt es überbordende Emotionen, die regelrecht anstecken?
Das passiert auf jeden Fall. Oft wird dafür der Vergleich zum sogenannten Sommermärchen der Heim-WM 2006 herangezogen. Wir hatten in Ansätzen etwas Ähnliches durchaus wieder, auch beim diesjährigen Fußballgroß-Event. Nicht nur medial wird das dann von allen Expert:innen ausgeschlachtet und bekräftigt, sondern, wenn Menschen zusammenkommen, gibt es nur noch das eine Thema – es dreht sich alles um das nächste Spiel. Da muss man nicht nur auf die Einschaltquoten blicken. Schaut man sich in der alltäglichen Lebenswelt um, bemerkt man das Phänomen auf einmal auch bei Personen, die sich ansonsten gar nicht unbedingt für Sport interessieren. Also es schwappt wirklich über und reißt Leute unmittelbar mit.
„Auf einmal völlig in etwas aufgehen dürfen, das ausleben und genießen dürfen“
Spielt hier eine Rolle, dass wir vielleicht Schwierigkeiten haben, sonst im Alltag Emotionen herauszulassen?
Da würde ich Ihnen ausdrücklich zustimmen. Bei medial inszenierten und transportierten sportlichen Großereignissen geht es um Gefühl. Ein Gegensatz zu einer sonst eher auf Rationalität ausgelegten Welt – nicht nur an der Universität, sondern insgesamt im Arbeitsleben, auch in der Schule. Auf einmal völlig in etwas aufgehen dürfen, das ausleben und genießen dürfen, das ist schon etwas, was den Sport als ein besonderes Feld ausmacht und dort eine hervorragende Bühne bietet.
Menschen, die vorher kaum an Sport interessiert waren, fiebern auf einmal mit einer Mannschaft mit, weil sie zufällig die gleiche Nationalität hat. Warum?
Es ist gar nicht so sicher, dass diese Menschen wirklich eine Passion für Sport entwickeln und dann auch tatsächlich selbst mehr Sport treiben. Damit anzufangen ist schon noch eine ganz andere Hürde. Erstmal ist es tatsächlich eine Begeisterung für diese kollektiv gelebten und erfahrenen Emotionen, die man ganz besonders im Stadion hat. Wenn man das mal erleben kann: Das ist was Einzigartiges. Man merkt diese verbindenden Momente aber nicht nur im Stadion, sie sickern auch ein bisschen durch, wenn man vielleicht beim Grillfest ist oder auch, na klar, wenn Menschen bei Public-Viewing-Events zusammenkommen oder in der Kneipe in der Innenstadt. Wieder starker Fokus aufs Gefühl: Das begeistert, dieses Erleben und Ausleben können von Emotionen. Sport ist hochgradig affektiv. Auch wenn man ihn nur schaut, nicht nur wenn man ihn selbst betreibt. Das ist das, was fasziniert und uns mitreißt. Und dann passiert etwas mit ihnen. Die Menschen interessieren sich dann nicht mehr nur für das Mitsingen, nein, sondern sie fiebern tatsächlich auch bei dem sportlichen Wettkampf mit. Wie geht es aus? Fällt noch ein Tor? Wann fällt ein Tor? Kann man das Ergebnis über die Zeit bringen? Wie weit fliegt der Speer? Egal, welche Sportart sie jetzt sehen, der Wettkampf bietet Menschen, die ansonsten vielleicht keine Begeisterung am Sport gefunden haben eine besondere Erfahrung der Ungewissheit: Das ist spannend. Und das ist das Besondere beim Sport: Dieses Genießen der Ungewissheit. Dass man nie weiß, ob es klappt oder wie es ausgeht. Das wissen wir vorher nicht, sonst wäre es Show. Für dieses intensive Erleben von Emotionen ist das unglaublich reizvoll.
„Es wird nur noch versucht, die andere Mannschaft aus dem Konzept zu bringen“
Die eigene Mannschaft anzufeuern ist völlig legitim. Ab wann kann aber kann das kontraproduktiv werden, vom Wir ins Gegen kippen?
Wenn man mit solchen Sportgroßevents schon Erfahrungen gemacht hat, erinnert man sich an ein Heimpublikum, das auf einmal total unfair war. Es beklatscht jeden Fehler, jedes Missgeschick der Gegner:in und versucht eigentlich nur noch, die andere Mannschaft oder Athlet:in aus dem Konzept zu bringen bis es schließlich umschwenkt in offensichtliche Hassbekundungen und Anfeindungen. Das ist aber ein sehr grundlegenderes Dilemma. Wir sprechen ja über Zusammenhalt: Menschen wachsen zusammen, fiebern zusammen mit, haben ein hohes Maß an Identifikation mit anderen der Gruppe. Und dieser Mechanismus funktioniert ja immer nur über eine Abgrenzung nach außen. Dieser Kern des Zusammenhalts, dieses Wir, wird umso stärker – und das ist das Ambivalente – je stärker auch die Grenze nach außen gezogen wird. Im Sport hat sich historisch immer wieder gezeigt, wie dort mit sportlichen Großveranstaltungen auch grober Unfug getrieben werden kann. Es ist ein ganz grundsätzliches Problem der Idealisierung von identitätsbezogenem Zusammenhalt, insbesondere, wenn er national gedacht ist. Denn dann brauche ich nach außen eine harte Grenze, über die die Anderen ausgeschlossen werden.
„Ich halte es für lohnenswert, sich auch immer wieder selbst zu hinterfragen“
Ist es ratsam, zu hinterfragen, ob man sich nationale Symbole ins Gesicht malen oder in Nationalfarben kleiden sollte – vielleicht gerade angesichts des derzeit wachsenden Nationalismus?
Das läge mir völlig fern, jetzt zu empfehlen oder zu urteilen, ob man das tun sollte oder eben nicht. Ich halte es aber für lohnenswert, sich auch immer wieder selbst zu hinterfragen. Innezuhalten, wenn man in der Sache so aufgeht und davon so begeistert ist und sich sozusagen nicht darin zu verlieren. Ich persönlich halte es für unproblematisch, sich Deutschlandfahnen umzuhängen oder sich damit zu schminken. Es handelt sich ja nicht um rechtsradikale Symbole. Dennoch wäre es lohnenswert, zu überlegen, was hier passiert. Wie stark beispielsweise eine Art positiver Feel-Good-Faktor des gesellschaftlichen Zusammenhalts dabei transportiert wird oder wie stark man sich mitunter auf das Nationale fokussiert. Das kann sehr problematisch werden, nämlich genau in dem Moment, in dem man nämlich den Sport nur noch im Sinne der Funktion einer solchen Identitätspolitik oder der Förderung eines Nationalgefühls benutzt. Das ist eine unschöne Begleiterscheinung. Ich sage das ganz ausdrücklich: Sie sprechen aktuelle Tendenzen an. Wenn man sich zum Beispiel sportpolitische Thesen der AfD anschaut, dann geht es nicht um Sport. Da geht es um eine Instrumentalisierung des Sports zum Zwecke der nationalen Identitätsbildung. Das hatten wir historisch bereits ein paar Mal und es hat in schreckliche Sackgassen geführt. Und das ist hochproblematisch. Denn da geht es nicht mehr um Begeisterung für den Sport, für Höchstleistungen, für die Spannung des Wettkampfs, oder auch für ein Zusammenkommen von Menschen mit anderen Menschen, anderen Nationen, anderen Religionen, sondern dann ist Sport nur noch dazu da, um den Kern dieser Identitätspolitik, die wir vorher angesprochen haben, zu stärken und zwar durch eine rigide Abgrenzung nach außen.
„Man versteht sich erst, wenn man sich kennenlernt“
Wie lässt sich anders herum Vielfalt akzentuieren?
Mein Eindruck ist, dass Vielfalt vor allem dadurch entsteht, wenn Menschen ein vielfältiges Umfeld erleben und das dann auch selbst leben dürfen. Also eben genau nicht, wenn man eine homogene Blase schafft, in der wir alle schön zusammen sind ohne den Rest. Gerade bei sportlichen Großevents ist die Möglichkeit, dass dort unterschiedlichste Menschen interessiert, begeistert am gemeinsamen Feiern des Sports zusammenkommen. Und das kann durchaus gelingen. Man versteht sich erst, wenn man sich kennenlernt. Dafür miteinander ins Gespräch kommen gerade auch bei Unterschieden, ist im Übrigen ganz essentiell. Auch wenn man sich auf den Rängen zuvor gegenseitig mal die Schlachtgesänge um die Ohren gehauen hat, sind viele Menschen danach absolut dazu in der Lage, das so zu differenzieren, dass sie dann auch gemeinsam wieder zusammenkommen und ein Bier oder einen Kaffee trinken. Organisierter Sport setzt auf Vielfalt. Nur wenn eine Veranstaltung politisch so instrumentalisiert wird, dass es nicht mehr darum geht, das Fremde kennenzulernen, sich mit Anderen auszutauschen, um dann gemeinsam den Sport zu feiern, sondern darum, den eigenen identitätspolitischen Kern zu stärken, dann hat man problematische Bedingungen geschaffen. Genau das ist eine politische Instrumentalisierung des Sports. Die ist gefährlich und auch Blödsinn, denn sie entspricht nicht der Idee der gemeinsamen Feier der sportlichen Wettkampfs.
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