Der Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert. Droht Himmel oder Hölle? Und wenn, dann welcher Himmel? Vom Himmel fielen in den ersten Minuten des neuen Jahres Milliarden von Rapssamen. In Sylvesterraketen sorgen sie normalerweise für das akkurate Verbrennen verschiedener Metallverbindungen. Etwa jedes zwanzigste Samenkorn kann keimen, obwohl es großer Hitze ausgesetzt war. Wahrscheinlich wurde bei der Produktion der Pyrotechnik mitunter genmanipuliertes Saatgut verwendet. Verboten ist dies nicht, schließlich handelt es sich bei Feuerwerkskörpern nicht um Lebensmittel. Wahrscheinlich wird die Welt in diesem Sommer trotzdem nicht an furchterregenden monströsen Rapspflanzen zu Grunde gehen. Aber doch zeigt dieses Beispiel, wie schnell angeblich innovative und angeblich sichere Technologie zu einem Problem werden kann, obwohl die Wissenschaft dem Menschen eigentlich dienen soll. Und dieses Spannungsfeld ist nicht erst seit drei Monaten zu erkennen. Vor über 150 Jahren zertrümmerten die Weber in Schlesien die Webmaschinen, weil diese ihnen Brot und Arbeit nahmen. Wäre infolge der Aufstände der technische Fortschritt zum Erliegen gekommen, wir würden noch immer in einer Feudalgesellschaft leben, manche von uns als Fürsten, die meisten als verarmte Untertanen. Doch diese Fiktion ist irreal. Der Fortschritt, so beweist die Menschheitsgeschichte, lässt sich nicht aufhalten. Als zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die Radioaktivität entdeckt wurde, galt dies zunächst als Meilenstein in der Geschichte der Menschheit. Tatsächlich möchte heute niemand mehr auf Röntgendiagnostik verzichten. Bis in die 1970-er Jahre galt Radioaktivität sogar als harmlos. Bei einem Atomkrieg, so suggerierten einschlägige Dokumentarfilme jener Zeit, reichten über dem Kopf gehaltene Aktentaschen, um Leben zu retten. Der Idealisierung folgte die Dämonisierung. Inzwischen aber müssen selbst Ökologen nicht mehr an die sofortige Zerstörung allen Lebens glauben. Realpolitik ist in der Frage über die Nutzung von Kernspaltung eingekehrt. Andere, neue Technologien wiederum spalten die Gesellschaft, wie dies einst die maschinellen Webstühle und die Kernenergie taten. Bevor im März vergangenen Jahres im größten Teilchenbeschleuniger der Welt unweit des Genfer Sees Protonen mit ungeheurer Energie aufeinander trafen, berichteten manche Boulevard-Medien vom drohenden Weltuntergang. Winzig kleine Schwarze Löcher würden bei diesem physikalischen Experiment entstehen, die unser Sonnensystem verschlucken könnten. Bislang allerdings leben wir noch, und zwar in Originalgröße. Winzig kleine Schwarze Löcher würden entstehen. Bislang allerdings leben wir noch, und zwar in Originalgröße. Die Teilchenphysik mit ihren Quarks und Higgs- Teilchen als Grundlagenforschung ist allerdings noch weit entfernt, unser tägliches Leben zu verändern. Anders sieht dies bei der Biotechnologie aus. Hier gibt es besonders im Ruhrgebiet viele praktizierende Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Ob in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die weltrettende oder gar weltzerstörende Genkartoffel kreiert wird, bleibt dem Normalbürger in der Regel verborgen. Befürworter der doppeldeutig sich auch „Bio“ nennenden Technologie glauben an die Ungefährlichkeit ihres Handelns. Jeder Pflanzen- oder Tierzüchter mache im Grunde nichts anderes als die Laboranten in ihren hermetisch geschlossenen Schutzanzügen. Gleichzeitig werden enorme Verbesserungen des Lebens in Aussicht gestellt. Quasi eine Welt ohne Hunger und Krankheit erscheint am Horizont. Die Kritiker der Gentechnologie wiederum fürchten neue Krankheiten für Pflanze, Tier und Mensch. Eine fundierte Einschätzung des Gefährdungspotentials bleiben sowohl Befürworter wie Gegner der Öffentlichkeit schuldig. Ähnlich sieht es mit der Nanotechnologie aus. Die winzigen Teile können nicht nur dabei helfen, Fenster streifenfrei zu putzen, sie sollen unser Leben revolutionieren. Solaranlagen und Akkus werden durch neue Oberflächenstrukturen erheblich leistungsfähiger. Pharmazeutische Produkte können in absehbarer Zeit viel passgenauer, also mit viel mehr Wirkung und viel weniger Nebenwirkung, eingesetzt werden. Nano-Gegner allerdings fürchten genau diese Durchdringungsfähigkeit der Mikropartikel. Chronische Entzündungen, hervorgerufen durch Asbeststaub, verursacht nachgewiesenermaßen Lungenkrebs. Ob die neuen kleinen Teilchen jene Eigenschaft haben, ist aber noch nicht geklärt. Für immer jung und unsterblich könnten wir eines Tages sein, wenn das genetische Geheimnis des Alterns gelüftet ist. Unwissenheit macht Angst. Noch mehr Angst können allerdings die Pläne mancher Wissenschaftler machen. Für immer jung und unsterblich könnten wir eines Tages sein, wenn das genetische Geheimnis des Alterns gelüftet ist. Die Teilchenphysiker mit ihrem Protonenbeschleuniger wiederum suchen nach dem Gottes-Teilchen, dem Bestandteil im Atomkern, der für das Wunder des Lebens verantwortlich ist. Etwas mag dabei tröstlich sein: selbst wenn die Existenz Gottes wissenschaftlich bewiesen ist, droht nicht automatisch ein Armageddon. Dafür ist der Alte viel zu phlegmatisch.
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