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Gemeinsam einsam: Überall Körper, doch was damit anfangen?
Foto: Thomas Spies

Ich, der ängstliche Furz

23. Februar 2017

Über den richtigen Umgang mit behinderten Mitmenschen – Thema 03/17 Fremdkörper

Liebe Behindis,

dies ist eine Beichte. Und eine Entschuldigung. Mein Vergehen: Ein Missverständnis. Eine Welt voller Missverständnisse, in der ihr die armen Säue seid und Menschen, denen nicht gerade ein Körperteil oder sonst was fehlt, nicht. Aber ich kann euch sagen: Es ist umgekehrt! Und eine dieser armen Säue bin wohl ich. Die letzten fünf Jahre teilte ich mir den Campus mit der Inklusionsgarde. Wagte es auch nur jemand in meiner Nähe „Das is voooll behindat!“ zu sagen, zogen sich wie auf Knopfdruck meine Augenbrauen zu einem tadelnden „Schäm dich!“ zusammen. Ich wollte es so richtig machen, dass ich sogar allen Ernstes vor Verfassen dieses Textes einige Sekunden überlegen musste, ob man „Behinderte“ gendern kann. Und dann dachte ich mir, hey, wieso so steif? Versuch’s doch mal ganz ungezwungen, hol den Stock aus dem Arsch, dann ist alles gleich viel selbstverständlicher. Daher spreche ich euch auch nun mit „Behindis“ an. Ist das nicht schön? Nein, es ist grausam, ich schäme mich schon, während ich das tippe. Noch viel schlimmer ist der Witz, den ich selbst erfunden habe: Darf man ab jetzt zu Karneval als behinderter Mensch gehen, weil Political Correctness sowieso out ist? Nicht mal formal entspricht das einem Witz. Also neuer Versuch: Wir machen uns jetzt mal ganz locker.

„Deutschland und die Behinderungen, das ist wie ein ängstlicher Furz, ich rieche es ganz deutlich, diese Hysterie hierzulande“, heißt es in Angelika Hertas Kurzfilm „Der beste Weg“. Und dieser Furz, das bin ich! By the way: Ich zähle mich in der Regel nicht gerade zu den sozial inkompetentesten Menschen. Nur mal einige Beispiele von Typen „Mensch“, mit denen ich im Alltag bestens zurechtkomme: Der Kerl, der mich regelmäßig in den Rossmann verfolgt, um mich anzubrüllen, er sei die Liebe meines Lebens. Mein Vater, der sich selbst mit 60 Jahren nicht zu schade für eine Prügelei ist. Zeugen Jehovas. Mein Onkel, der mir seit Ewigkeiten beibringen will, Molotow Cocktails zu bauen. Ich. Meine Mutter, die mich mit ganz besorgter Miene beim Frühstück fragte, ob ich lesbisch sei, weil ich keinen Goldschmuck tragen mag. Und die entsprechen laut Gesellschaft der „Norm“. Kein Witz.

Und meine Mutter – ja, die ist sowieso an allem schuld. Sahen wir einen behinderten Menschen auf der Straße, verdunkelten sich die Augen dieser weichherzigen Frau zu einem tiefen Ozean aus Mitleid – sehr viel Mitleid. Mitleid bedeutet im Umkehrschluss: sich in Anwesenheit gewisser Menschen schuldig zu fühlen. Daher will ich aus Überforderung fast heulend wegrennen, wenn ein blinder Mensch an der Bahnhaltestelle Parcours durch die Menschenmenge laufen muss, und ich denke: Wie schön und einfach wäre es jetzt, wenn ich dich einfach am Arm packen und führen würde? Soll ich? Soll ich nicht? Soll ich? Soll ich nicht? Mitleid, dieses Rudiment aus Zeiten, in denen Toleranz noch ein Gefühl und keine Selbstverständlichkeit war, gehört abgeschafft. Vielleicht schockiere ich mich selbst und gehe tatsächlich als behinderter Mensch an Karneval.

Meine Indoktrination ist so weit vorangeschritten, dass schon meine Kniescheiben flimmern, wenn ich den Geruch von alten Menschen in der Straßenbahn wahrnehme und – wehe – meinen Arsch noch nicht vom Sitz zwecks selbstlosen Platzangebots gehoben habe. Doch es gibt alte Menschen, die wollen gar nicht sitzen, und es gibt alte Menschen, die eigentlich keine alten Menschen sind und dich dann hassen, weil Du ihnen das Gefühl gibst, ein alter Mensch zu sein. Und es gibt Behinderte, die unser Mitleid nicht wollen. Es gibt Behinderte, die am Wochenende richtig krass auf die Kacke hauen und richtig schmutzigen Sex haben.

Liebe Behindis, im Umgang mit euch fühle ich mich manchmal wie die Dame, die mich mit Blick auf meinen Migrationshintergrund mit diesen Worten begrüßt: „Ach, das ist ja schön, dass Sie kein Kopftuch tragen!“ – nett gemeint, aber völlig daneben. Weil soll heißen: Du bist anders, das habe ich schon wahrgenommen, aber ist okay, weil Du ja nix dafür kannst. Und vor allen Dingen: Du bist anders. Dann hat also die nicht-behinderte Autorin diesen bescheuerten Text geschrieben, und dann wird er von nicht-behinderten Menschen veröffentlicht, damit wiederum andere nicht-behinderte Menschen das lesen und denken „Ahaaaa! So ist das also!“. Kam jemand mal auf die Idee, euch den Text selber schreiben zu lassen, damit ihr mal aus der Objekt-Rolle rauskommt? Oder haben wir mal wieder alles falsch gemacht? 


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www.quergedachtes.com | Blog von Aleksander Knauerhase, auf dem er über seinen Weg zu sich selbst und seinen Autismus schreibt
leidmedien.de | Internetseite zur Vermittlung von Wissen über vorurteilsfreie Sprache

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SEYDA KURT

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