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Aufeinander zugehen, statt auf Signale zu warten
Foto: Cornelia Wortmann

„Wie ein Alien auf einem fremden Planeten“

23. Februar 2017

Blogger Aleksander Knauerhase über Autismus – Thema 03/17 Fremdkörper

trailer: Herr Knauerhase, was würden Sie sagen, was ist typisch für Autismus?
Aleksander Knauerhase: Jeder Autist ist anders und ein typisches, nur auf Autismus zutreffendes Merkmal gibt es eigentlich nicht. Sogenannte autistische Züge hat jeder Mensch. Erst die Summe und die Ausprägung, bzw. die Auswirkung auf das Leben machen dann einen Menschen zu einem Autisten. Fast alle Autisten haben dennoch eines gemein: Eine andere Wahrnehmung. Diese entsteht durch eine Reizfilter„schwäche“ und wird von sehr vielen Autisten beschrieben und berichtet.

Autisten erleben sich wie Inseln. Um Kontakt zu Anderen aufzunehmen, müssen sie gezielt Brücken bauen. Wie ist das gemeint?
Das sehe ich anders. Auch, wenn Autisten sich gerne zurückziehen – eine Folge der Reizüberflutung durch die Reizfilterschwäche – leben und fühlen wir uns eigentlich nicht wie auf einer Insel. Wofür wir dennoch in vielen Fällen dankbar sind, ist, wenn vertraute Außenstehende eine Brücke bauen, um soziale Kontakte aufzunehmen. Sie hilft immer dann, wenn die Hürde für den Autisten zu groß wird, einen ersten Kontakt aufzubauen.

Wie haben Sie sich in Gruppen gefühlt? Fühlten Sie sich als Teil davon?

Aleksander Knauerhase
Foto: Presse

ZUR PERSON

Aleksander Knauerhase (42) ist Inklusionsbotschafter, Informationswissenschaftler, Blogger und Autist. Seit seiner Diagnose 2009 beschäftigt er sich mit dem Thema Autismus. 2016 ist sein Buch „Autismus mal anders“ bei Books on Demand erschienen.


Das hängt sehr von der Gruppe ab. Je gezwungener, bzw. unfreiwilliger die Zusammensetzung der Gruppe ist, umso unangenehmer wird es. Gruppen sind aber generell anstrengend für mich.

Man spricht bei Autisten häufig vom Wrong-Planet-Syndrom. Was ist damit gemeint?
Das Gefühl entsteht aufgrund der anderen Wahrnehmung. Man merkt schon als kleines Kind, dass man anders ist. Man fühlt sich fremd. Was man nicht erfassen kann, ist, warum das so ist. Es ist tatsächlich so, dass viele Autisten schon früh berichten, sich wie ein Alien auf einem fremden Planeten zu fühlen, weil man das soziale Gefüge und all’ das, was um einen herum passiert, oft einfach nicht versteht.

Was entgeht ihrer Wahrnehmung?
Weniger als einem nichtautistischen Menschen. Bedingt durch die Reizfilterschwäche, bekommen Autisten sehr viel mehr mit, als Menschen ohne diese Besonderheit in der Reizfilterung. Von außen wird aber oft beschrieben, dass wir so einiges nicht „wahrnehmen“. Gemeint ist hier aber nicht die Wahrnehmung an sich, sondern das Erkennen und Verstehen verschiedener sozialer Regeln oder Besonderheiten.

Sie sagen in ihrem Buch „Autismus mal anders“: Sie haben Probleme, Menschen anhand ihrer Gesichter wieder zu erkennen. Haben Sie einen Trick, den Sie anwenden?
Das bleibt im Laufe des Lebens nicht aus. Ich erkenne viele Menschen, besonders diejenigen, die ich nur selten sehe, schneller an der Stimme als am Gesicht. Namensschilder machen das natürlich leichter, aber die werden ja nicht überall getragen.

Emotionen erkennen, aus Gesichtern lesen: Das fällt autistischen Kinder schwer. Grund dafür sind Spiegelneuronen im Gehirn, die bei Autisten anders arbeiten, so Wissenschaftler.Wenn Sie aus Ihrer Perspektive sprechen: Wie lief das Deuten von Gefühlen zunächst ab, als Sie sich dessen noch nicht bewusst waren?
Meiner Meinung nach haben die sogenannten Spiegelneuronen damit nicht wirklich viel zu tun. Wenn man, was nicht auf jeden Autisten zutrifft, ein Gesicht nicht als Ganzes wahrnimmt, sondern als eine Ansammlung von Einzelmerkmalen, wird es auch schwer, darin Mimik zu erkennen. Diese spielt sich ja im kompletten Gesicht ab und nicht nur an einzelnen Stellen. Wie das bei mir in der Kindheit war, kann ich nicht mehr genau sagen. Es war eben normal für mich.

Und welche Strategien haben Sie aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrung heute?
Heute bin ich sehr direkt: Wenn etwas unklar für mich ist, frage ich. Das ist in jedem Fall besser, als still etwas zu vermuten, was vielleicht nicht zutreffend ist.

Sie nähern sich Themen anders, eher rational. Wollen auch in Gesprächen vorbereitet sein. Wie sieht das klassischerweise aus?
Ich versuche, einen Gesprächsverlauf so gut wie möglich vorzudenken und vorzubereiten. Damit ich auf jede mögliche Entwicklung des Gespräches eine richtige Reaktion habe. Je direkter die Kommunikation ist, umso schwerer fällt das natürlich. Telefonieren ist daher für mich in vielen Fällen unmöglich und eine unüberwindbare Hürde. Indirekte Kommunikation ist dagegen hilfreich, weil man nicht sofort antworten, bzw. reagieren muss. Eine derartige Vorbereitung auf Gespräche, besonders, wenn man nicht weiß, worum es geht, ist sehr anstrengend und kräftezehrend.

Was passiert, wenn Sie mit etwas Unvorhergesehenem konfrontiert werden, z.B. wenn geplante Tagesabläufe nicht eingehalten werden können?
Kleine Änderungen sind weit unproblematischer, als welche mit größeren Auswirkungen. Das hängt sehr davon ab, wie es mir in dem Moment geht und was sich wie ändert. Wenn ich erholt bin und es mir gut geht, kann ich besser damit umgehen, verglichen mit einem Zustand der Überlastung. Das macht für viele Außenstehende die Reaktionen von Autisten oft so unberechenbar. Hier können Dinge oder Änderungen, die für andere „Kleinigkeiten“ darstellen, für einen Autisten eine enorme Belastung sein. Und so kommt es auch, dass ein Autist auf eine bestimmte Änderung mal mehr und mal weniger heftig reagiert.

Wenn es bei einem Autisten zu einem Wutausbruch kommt, sprechen Sie in Ihrem Buch von einer fehlgeschlagenen Kommunikation. Können Sie das näher ausführen?
Wut ist eine ganz normale und menschliche Reaktion auf Kommunikationsfehler. Stellen Sie sich folgendes vor: Sie stehen in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht beherrschen. Sie müssen dringend mal auf die Toilette und versuchen, das zu kommunizieren. Um sie herum stehen Menschen und reden auf Sie ein und bringen Ihnen Essen. Was wird passieren? Sie werden erst Frust und dann auch so etwas wie Wut entwickeln, weil man ihre Bedürfnisse und ihre Kommunikation nicht versteht.

Wie ließe sich die Kommunikation verbessern?
Kommunizieren Sie eindeutig und klar. Gehen Sie bewusst mit Sprache um und vermeiden Sie Mehrdeutigkeiten, Metainformationen und vor allem die Selbstverständlichkeit der Annahme, dass ihr Gegenüber schon versteht wie Sie das meinen. Was ebenfalls sehr wichtig ist: Öffnen Sie sich für alle Kommunikationswege außerhalb der verbalen Kommunikation. Autisten kommunizieren, wie wiederum alle anderen Menschen auch, auf vielen Wegen. Man muss diese nur lesen können.

Gab es Bestrebungen, Ihr Verhalten zu ändern?
Ich habe mich bis zu meinem 35. Lebensjahr massiv versucht anzupassen. Klar: Wer ist schon gerne Außenseiter und Sonderling? Auch, wenn das quasi aus mir heraus kam: Es hat mir massiv geschadet. Ich habe mich dem Leben angepasst und das hat sehr viel Energie und Kraft gekostet. Seit der Diagnose gehe ich diesen Weg quasi rückwärts: Ich passe mir mein Leben so an wie ich es brauche. Und das ist ein befreiender Weg. Ich bin dankbar, dass ich ihn gehen kann.

Wie ist Ihre Familie mit dem Thema Autismus umgegangen?
Meine Familie hat mich so genommen, wie ich war. Und das ist rückblickend gesehen gut so. Natürlich gab es immer wieder mal den einen oder anderen „Stups“, etwas zu unternehmen oder zu machen. Ich habe das auch probiert. Wenn es mir nicht lag, war es aber auch ok und ich wurde nicht gezwungen, Dinge zu machen oder mich anders zu verhalten. Es wurde nie versucht, mich in eine „Norm“ zu pressen, damit ich so werde, wie ich der Gesellschaft nach hätte sein sollen. Die Diagnose Asperger Syndrom* gab es nicht in meiner Kindheit. Das war damals noch nicht bekannt.

Was würde einem Autisten helfen?
Was Autisten gut tut: Auf ihre Anforderungen einzugehen und sie in ihrem Leben zu unterstützen, wo es möglich ist. Der Schlüssel liegt im Verstehen. Auf die Frage, welche Therapie für Autisten meiner Meinung nach die Beste sei, antwortete ich einmal: So wie ich nichtautistischen Menschen die autistische „Welt“ erkläre, so sollte man Autisten die Abläufe der nichtautistischen Umwelt erklären. Warum Dinge so sind, wie sie sind. Wenn sie es verstehen, können sie auch damit leben.

Der Psychologe Bruno Bettelheim vermutete, Autismus entstehe, wenn Kinder in der Familie vernachlässigt werden. Diese diskriminierende Theorie ist heute längst widerlegt.Wissen Sie, wie man über die Zeit hinweg therapeutisch mit Autisten umgegangen ist? Würden Sie daran etwas kritisieren?
Leider gibt es bis heute noch viele Bestrebungen, Autisten mit teilweise drastischen Maßnahmen auf Norm bringen zu wollen. Damit sie nicht mehr auffallen und der Autismus quasi verschwindet. Ich kämpfe gegen solche Methoden der Umerziehung und der „Normalisierung“ von Autisten. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte ABA**, die im Kern durch Konditionierung und Drill funktioniert. Das Ganze dann noch, so hätten es die Anbieter gerne, 40 Stunden pro Woche. Optimal sei „die gesamte Wachphase des autistischen Kindes“. Alles, was eine Heilung von Autismus verspricht, ist unseriös und oftmals auch hochgradig schädlich. Sobald man selbst das Gefühl bekommt „So möchte ich nicht behandelt werden, bzw. das würde ich nicht bei mir wollen“, sollten alle Warnlampen angehen und man sollte hinterfragen, was da mit dem eigenen autistischen Kind passiert. Generell sollte das Bestreben immer dahin gehen, den Autisten zu unterstützen und nicht, ihn zu verändern.

Ihr Appell an eine Gesellschaft, in der Sie leben möchten?
Akzeptiert jeden Menschen so, wie er ist und seht dessen Stärken.

* Variante innerhalb des Autismus-Spektrums

** Applied Behavior Analysis nach Løvaas ist eine umstrittene Psychotherapieform, die u.a. zur Behandlung von autistischen Störungen angewendet wird. Kritiker sprechen von einer Konditionierung entgegen der natürlichen Veranlagung eines Autisten: Erwünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes bestraft.


Lesen Sie weitere Artikel 
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema

Aktiv im Thema

www.nrw-eineschule.de | NRW-Aktionsbündnis mit dem Ziel, das vielgliedrige Schulsystem durch eine Schule für alle zu ersetzen
abilitywatch.de | Die Disabled People’s Organisation agiert als Selbstvertretung behinderter Menschen in Deutschland und kritisiert das Bundesteilhabegesetz
www.quergedachtes.com | Blog von Aleksander Knauerhase, auf dem er über seinen Weg zu sich selbst und seinen Autismus schreibt
leidmedien.de | Internetseite zur Vermittlung von Wissen über vorurteilsfreie Sprache

Thema im April: ZUKUNFT JETZT!
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