Zu Beginn eines jeden Jahres wollen immer noch die meisten Menschen ihr Verhalten ändern – mit dem Rauchen aufhören, ins Fitnessstudio gehen, die Ernährung umstellen. Das sind die Klassiker. Neu dazu gekommen ist der „Digital Detox“, was nichts anderes heißt, als mal wieder mehr in der Realität zu leben anstatt nur auf's Handy zu glotzen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Mittlerweile gibt es Challenges, Seminare und Retreats, die dabei helfen sollen, digital zu entgiften. Selber kriegen wir das anscheinend nicht mehr hin. Handy, Tablet, Smartwatch haben uns fest im Griff und verlangen unsere ständige Aufmerksamkeit.
Die „Agentur für nachhaltige Kommunikation“ hat „The Digital Detox“ ins Leben gerufen (und patentieren lassen), wo Coaches diverse Workshops und Vorträge anbieten. So kann man ein Tages- oder Wochenendseminar besuchen und im Grünen über die eigene Smartphone-Nutzung sinnieren, sich austauschen und Achtsamkeitsübungen praktizieren. Die Kosten liegen dabei bei 199 Euro. Quasi ein Schnäppchen. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, Strategien gegen die E-Mail-Flut und ständige Erreichbarkeit oder digitales Stress-Management zu erlernen. Für Unternehmen gibt's direkt mehrtägige Veranstaltungen, in denen Führungskräfte lernen sollen, dass ihre Angestellten nicht die ganze Zeit erreichbar sein müssen.
Was wie ein April-Scherz klingt, ist anscheinend bitter nötig.Studienzufolge schauen wir rund 200 mal pro Tag auf unser Handy und entsperren es davon gut 80 mal. Wir sind also ständig abgelenkt und erreichbar. Selbst dieser Text entsteht mit zig Unterbrechungen, weil Mails aufploppen, das Telefon brummt oder die Gedanken zu einer vergessenen Antwort abschweifen.
Was kann also helfen? Der Stern brachte im April 2018 schon mal einen kleinen Leitfaden, zum „modernen Entgiften“ raus, in dem die Autorin Gesa Holz eine Sammlung diverser Kniffe und Tricks vorstellt, mit denen wir uns wieder mehr im Hier und Jetzt verorten können sollen – oder zumindest auch mal eine Stunde ohne Handy auskommen. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Stummschalten, weglegen, ignorieren, auslagern und sich dran halten. Es gibt Oldschool-Wecker, Kalender aus Papier und sogar aktuelle Stadtpläne.
Doch Bequemlichkeit und der ewige Wunsch nach Verbindung und Belohnung lassen uns immer wieder auf das „Alles-in-Eins“ zurückgreifen. Apps, die unser Leben erleichtern (sollen) gibt es wie Sand am Meer. Brauchen tun wir die aber nicht wirklich. Wir schauen sogar auf's Handy, wenn es gar keine Benachrichtigungen oder Anfragen gibt. Einfach nur weil es eine Flucht aus dem Alltag ermöglicht.
Es ergibt also definitiv Sinn, das eigene Nutzungsverhalten zu analysieren und zu ändern. Dabei sollte man aber seinen eigenen gesunden Menschenverstand nutzen: Einen festen Platz für's Handy einrichten, mal ganz ohne Telefon im Wald spazieren gehen, eine Massage buchen (und nicht darüber posten), auf dem Klo nicht scrollen, sondern pinkeln, abends im Bett ein gutes Buch lesen und sich beim Essen mit den Kindern unterhalten. Profis buddeln zum Abschalten im Garten. Oder gehen in den örtlichen Park. Man kann auch einen Film schauen oder eine neue Platte komplett hören, ohne WhatsApp kontrollieren zu müssen.
In der Regel passiert nichts Schlimmes, Nachrichten können auch zwei Stunden später oder am nächsten Tag beantwortet werden und wir müssen auch nicht immer kurz noch die Welt retten.
Und wenn man es ganz ernst meint, lässt man sich zur Kursleiter*in für das japanische Waldbaden ausbilden. Kein Scherz.
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