Wer kennt ihn nicht, diesen Reiz, die kleinen Bläschen zwischen den Fingern verreiben, zum Platzen bringen zu wollen? Mit gleich „Hundert Meter Luftpolsterfolie“ will uns die in Essen lebende Autorin Sandra Da Vina in ihrem neuen Buch von den kleinen und größeren Freuden des Lebens berichten – vom Spaß am Kaputtmachen, aber auch von dem Gefühl, wenn die Luft raus ist aus allem. Seit 2012 ist die 27-jährige regelmäßiger Gast auf den deutschen Poetry-Slam- und Kabarett-Bühnen, 2014 gewann sie als erste Frau die NRW-Landesmeisterschaft im Poetry Slam. Im gleichen Jahr erschien eine erste Sammlung mit Kurztexten unter dem Titel „Sag es in Leuchtbuchstaben“. Gastauftritte in TV-Formaten wie „Ladies Night“, „Alfons & Gäste“ oder der „Köln Comedy Eröffnungsshow“ zeigen, dass Da Vina kein Kind von Traurigkeit, mit mindestens einem Bein recht gut in der Comedyszene verwurzelt ist.
Auch die Texte, die in „Hundert Meter Luftpolsterfolie“ versammelt sind, überzeugen durch Sprachgewandtheit und Pointen. Beim Lesen hat man Da Vinas Stimme stets im Hinterkopf, der größte Teil der Texte dürfte auf der Bühne ebenfalls große Wirkung entfalten. Schreibt die Autorin für die Bühne anders als für den stillen Leser?
„Texte, die für die Slam-Bühne entstehen, sind natürlich schon stark an ihren Kontext gebunden“, räumt Da Vina ein, „das bedeutet, man hat ein Zeitlimit und durch die Performance noch eine zusätzliche Ebene, den Text zu realisieren. Das muss man natürlich mitdenken. Selbst wenn man nur dasteht und etwas runterliest, performt man. Alles, was man auf der Bühne tut, hat eine Wirkung. Die Reaktion des Publikums macht die Slam-Literatur so besonders: Die Stimmung entscheidet ganz maßgeblich darüber, wie ein Text ankommt. Hier erprobt der Autor sein Schreiben. Und je nachdem, wie der Abend verläuft, wie gut der Text ‚funktioniert‘ hat, entwickelt man ihn weiter. Slam Poetry ist immer im Fluss, immer in Bewegung. In Buchform verliert sich diese Dynamik natürlich. Hier muss jedes Wort sitzen, hier gibt es aber auch mehr Raum, um eine Geschichte zu entwickeln. Der Buchautor muss sein Publikum imaginieren, er bekommt kein direktes Feedback. Er kann auch nicht durch seine Performance (Gestik, Mimik, Intonation) steuern, wie sein Text wirkt. Das ist schon eine andere Art des Schreibens, natürlich. Aber beides ist Literatur, und jedes für sich ist sehr reizvoll.“
Spielemesse und Poetry Slam
Geboren wurde die Autorin in Münster, wuchs in Niedersachsen auf. Ins Ruhrgebiet, genauer nach Essen, kam Da Vina 2008 zum Studieren, recht unbefangen näherte sie sich dieser Region und ihren Bewohnern: „Ich wusste nur, dass es hier eine Spielemesse gibt, weil ich da jedes Jahr mit meiner Familie hingefahren bin. Und ich war mir deswegen sicher, dass es hier nur super sein kann. Essen ist meine erste richtige Wahlheimat und ich lebe gerne hier. Hier nimmt sich keiner zu wichtig, alle sind wunderbar bodenständig und offen.“ Ob das Revier auch ihr Schreiben prägt? „Natürlich beeinflusst die eigene Realität das Schreiben. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich jetzt woanders leben würde. Das Ruhrgebiet kommt in meinen Texten oft vor, ich habe in ‚Hundert Meter Luftpolsterfolie‘ einen eigenen Ruhrgebietstext und auch so erwähne ich meine Heimatstadt Essen häufig in den Texten. Das ist eben ein Teil von mir und meinem Schreiben.“
Mit der Poetry-Slam-Szene des Ruhrgebiets fühlt sich Da Vina eng verbunden, hat sie doch hier auch ihre ersten literarischen Gehversuche unternommen: „Ich hatte meinen ersten Slam-Auftritt 2012 in der WestStadtHalle in Essen, damals noch im WestStadtHorizont. Meine literarischen Ambitionen haben also im Ruhrgebiet ihren Ursprung und finden auch hier heute noch überwiegend statt. Das Poetry-Slam-Netzwerk im Ruhrgebiet ist sehr gut aufgestellt, hier wird viel getan (WortLautRuhr), auch für die Nachwuchsförderung. Ich hatte also das Glück, dass ich schnell auch auf anderen Bühnen auftreten durfte und direkt mit vielen Kollegen in Kontakt kam. Das war vielleicht das motivierendste an der Sache: Dass man Freunde gefunden hat, die die eigene Leidenschaft teilen. Und ohne die vielen guten Freunde und Bekannte, mit denen man Abend für Abend auf der Bühne steht, wäre ich vielleicht gar nicht dabeigeblieben. Schriftstellersein hat ja sonst oft auch etwas Einsames, weil man die meiste Zeit mit dem Schreiben verbringt. Das Auftreten und der Kontakt zu Kollegen ist da eine heilsame und wunderbare Abwechslung.“
Goosen müsste man sein
Zu diesem Freundeskreis gesellt sich auch ein Urgestein der Ruhrgebiets-Literaturszene: Der Bochumer Autor und Kabarettist Frank Goosen hat Sandra Da Vina kürzlich bei einer Veranstaltung im Fußballmuseum auf der Bühne begrüßt, und demnächst ist sie zu Gast in seiner Literaturreihe „Goosens neue Bücher“ im Schauspielhaus Bochum. Wenn sie hierüber spricht, offenbaren sich in ihrer Stimme großer Stolz und Freude: „Das ist großartig! Ich habe ‚Liegen lernen‘ am Anfang meiner Studienzeit gelesen und habe es geliebt. Dann habe ich alles gekauft, was man zu Goosen kaufen konnte. An unserer WG-Tür in Essen-Süd hing all die Jahre eine Radio Heimat ‚Woanders is auch scheiße‘-Postkarte. Ich hätte nie gedacht, dass ich Frank Goosen mal treffen würde. Erst vor knapp zwei Jahren habe ich eine Hausarbeit über ihn geschrieben und immer gedacht: ‚Wow, das ist so cool. Frank Goosen müsste man sein.‘ Und jetzt darf ich mit ihm die Bühne teilen, das ist sehr unwirklich und eine große Ehre.“
Die Frage nach Lieblingsautoren oder literarischen Vorbildern vermag Sandra Da Vina nicht so eng einzugrenzen: „Ich habe bis Ende 2016 noch studiert, Germanistik, und dadurch im Uni-Kontext wahnsinnig viel gelesen. Hier am liebsten Gegenwartsliteratur. Dann sind alle meine Kollegen sehr fleißig und es gibt immer tolle neue Bücher aus der Slam- und Lesebühnenszene zu entdecken, zuletzt z.B. Sebastian 23: ‚Hinfallen ist wie anlehnen, nur später‘. Ich lese privat mittlerweile am liebsten Bücher, die weit weg sind von meinem eigenen Schreiben: Krimis, Thriller, Science Fiction, Sachbücher. Keine Ahnung, warum das so ist. Vielleicht weil man sich dann nicht immer fragt: ‚Wie hättest du das geschrieben?‘ Das ist ein Fluch.
In ihrem aktuellen Buch löst sich die Autorin ein wenig von den Zwängen der Slam-Literatur, spielt ein wenig mit anderen Formen. Ob sie sich vorstellen kann, einmal längere Erzählungen oder einen Roman zu schreiben? „Slam-Texte sind natürlich immer stark an ihren Aufführungskontext mit dem gebunden. In Hundert Meter Luftpolsterfolie hatte ich Gelegenheit, mich auch an längeren Texten zu versuchen. Im Buch findet sich zwar zu 90 Prozent Slam-Literatur, aber auch zwei längere Texte (Alpaka, Nie-Zufrieden-Mann) sowie kleine Dialoge, die so auf einer Slam-Bühne nicht zur Aufführung kommen. Natürlich sind auch andere Formate reizvoll. Ich habe mit Tobi Katze in Bochum die Lesebühne Die Leiden der jungen Wörter, wo beispielsweise auch Raum ist, längere Stücke auszuprobieren. Vor HML habe ich bei Oetinger34 ein kleines Jugendbuch (Verlieb dich!, 2014) veröffentlicht. Das war auch schon eine spannende Erfahrung. Jetzt fehlt noch ein Roman, das ist natürlich immer ein Traum. Da kann man eine Geschichte dann ganz anders aufziehen, Charaktere entwickeln, eine richtige Handlung konzipieren – das gibt der Slam mit seinem Zeitlimit natürlich nur bedingt her.“
Sandra Da Vina: Hundert Meter Luftpolsterfolie | Lektora Verlag | 184 S. | 12 €
Live:
9.2. 20 Uhr: Theater Fletch Bizzel, Dortmund
22.2. 20 Uhr: Schauspielhaus Bochum – Gast bei „Goosens neue Bücher“
10.3. 19 Uhr: Stadtbücherei Gladbeck, Nacht der Bibliotheken
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