In Bertolt Brechts Drama muss sich ein Kriegsheimkehrer zwischen dem Spartakusaufstand von 1919 und der Liebe einer Frau entscheiden. Für die Inszenierung hat AutorinŞeyda Kurt zusätzliche Texte aus weiblicher Sicht geschrieben.
trailer: Frau Brucker, in der Ankündigung für das Stück heißt es: „Auf in den politischen Aktivismus, oder lieber in Sicherheit: ins große, weiße Bett.“ Liegen heute nicht alle im Bett und schicken ihre kruden Ansichten lieber nur durchs Internet?
Felicitas Brucker: Wir leben in einer politisch sehr aufgeladenen Zeit, und für die meisten Menschen ist spürbar, dass uns das, was wir bisher als gegeben betrachtet haben, bald um die Ohren fliegt. Widerstand kann in allen Formen stattfinden, auch mit Texten, mit Gesprächen, mit Theater. Brecht ist ein Autor, der sich an seiner politischen Realität abgearbeitet hat, und der Text hat erschreckend viel mit heute zu tun. Im Stück steht der Kriegsheimkehrer im letzten Akt vor der Entscheidung, mit in den bewaffneten Aufstand zu ziehen oder mit der Frau, auf die er vier Jahre gewartet hat, nach Hause zu gehen. Diese Dualität führt oft dazu, dass Anna zur Projektionsfläche für das unpolitische Leben wird, für die Liebe, den Rückzug, das „große, weiße Bett“.
Für uns in der Produktion ist Anna auch eine sehr politische Rolle. Sie trennt sich nach dem zweiten Akt von ihrem bürgerlichen Zuhause, stellt sich gegen die rechtskonservative Haltung ihrer Eltern, gegen ihre Festlegung auf ihre Arbeit als Mutter einer Kernfamilie. Sie legt das alles ab und geht auf die Straße, in eine unsichere Zukunft, schwanger, eigenständig und mit Interesse für die Aufständischen. Sie folgt Kragler, aber eben nicht nur aus Liebe. Dadurch ist die Frage am Ende des Stückes für uns eine andere. Nachdem im Text sowohl die Konstruktion der bürgerlichen Kernfamilie scheitert als auch im nächsten Schritt der Aufstand zersplittert, stellt sich die Frage, was ist das Dritte, wie könnten wir tatsächlich in nicht destruktivem Maße die Welt verändern. Insofern – man könnte sogar im Bett politisch sein, denn auch Text ist eine Waffe, und Anna kann politisch sein, mit Kind und schwanger. Ich denke, es wäre wichtig, diese Kategorisierungen abzulegen. Wie kann man in unserer jetzigen Zeit Widerstand und Utopie denken. An wieviel Veränderbarkeit glauben wir noch.
Wo bleibt da Kragler?
Brecht beschreibt sehr hart, wie Kragler von dem System, das ihn benutzt und in den Krieg geschickt hat, wieder ausgespuckt wird. Er kommt in eine Gesellschaft zurück, die „Verlierer“ nicht akzeptiert und ihn ghostet. Es gibt kein Zurück mehr in sein früheres Leben. Er wird zur tickenden Bombe. Denn Geister können einen irgendwann heimsuchen. Brecht geht mit den frühen und späten Fassungen zwischen 1922 und 1952 verschieden mit dem Aufstand um. Vorlage war der historische Spartakusaufstand, der niedergeschossen wurde. Brecht zitiert den Aufruhr aber auch die Zersplitterung und arbeitet sich damit an seinen eigenen Erfahrungen mit dem Kommunismus ab. Kragler ist der Mensch, den er stellvertretend hoffen, handeln oder aufgeben lässt.
Stellen Sie auch die Frage, wer vom Krieg profitiert und wer sich heute noch auflehnt? Rheinmetall-Aktien haben sich immerhin verzehnfacht. Es profitieren also immer die Falschen, oder?
Ja, absolut. Im Stück gibt es die Kriegsgewinnler und die Opfer des Krieges. Interessant im Stück ist, dass es im Text keine eindeutigen Gewinner- oder Opferrollen gibt. Man muss nicht viel tun, um das Stück ganz konkret für das Heute zu lesen. Das Wiedererstarken der Rechten, die gesellschaftliche Verhärtung, die soziale Schere, die Frage nach Liebe ohne das „richtige“ oder „falsche“ Lebensmodell, die große Unzufriedenheit vieler Menschen, das Pulverfass, auf dem wir zur Zeit sitzen. Die Frage der Kriege und wie wir direkt damit in Verbindung stehen als Land ist heute leider wieder eine aktuelle Frage, und auch die Konsequenzen unserer Beteiligung. Das war vor ein paar Jahren noch anders, da war das Stück Geschichte.
Die Autorin Şeyda Kurt soll für Ihre Inszenierung Brecht erweitern, geht das überhaupt?
Was geht ist, diesem tollen Text eine heutige, politische, weibliche Stimme hinzuzufügen. Erweitern klingt, als gäbe es ein Manko. Das ist es nicht. Zumal der Großteil des Textes Brecht ist. Ich arbeite oft und sehr gerne mit zeitgenössischen Autor:innen. Dabei geht es nie darum, einen alten Text zu zerstören, sondern im Gegenteil das absolut Relevante dieses Stoffes für unsere Gegenwart stärker aufbrechen zu lassen. Şeydas Texte sind ein Spiegel aus dem Jetzt und ein dezidiert heutiger politischer Blick. Es ist ein Impuls zu dem Stück, eine Fortführung. Ihre beiden Bücher „Radikale Zärtlichkeit“ und „Hass“ haben mich begeistert. Sie hat den Aufständischen in unserem Stück eine neue Stimme gegeben, sowie Anna und der Sexarbeiterin Marie. In einem Text, den sie für uns geschrieben hat, heißt es: „Wonach sehnst du dich? Nach Verbundenheit ohne Unterwerfung. Nach Zärtlichkeit ohne Lügen. Nach Kummer tauschen und keine Ringe. Nach Familie, die nicht in Blut, Boden und einem Erbe von Leichen wurzelt.“
Wer sind die Adressaten Ihrer Inszenierung? Die typischen Theatergänger – oder die, die sich wirklich auflehnen wollen?
Alle. Ich finde, dass das Theater immer noch dazu da ist, und das schon seit der Antike, ein gemeinsames Live-Erlebnis zu ermöglichen und mit Fragen umzugehen, die in uns brennen, die einem ins Gesicht springen. Ich glaube nicht an ein reines Konsum-Theatererlebnis. Ich glaube an die Intensität von Theater, daran, einen Versuch zu teilen, den man als Gruppe mit einem Thema macht, und an unsere menschliche Sehnsucht nach Transformation. Das Stück hat eine hohe Explosivität, es ist gleichzeitig auch ein Sprachstück des Expressionismus. Wir erzählen einen Trip durch eine Nacht, in der eine bürgerliche Familie versucht, sich vor dem bewaffneten Aufstand auf den Straßen abzuschotten, deren Perspektive sich aber verschiebt, als die schwangere Tochter den Schutzort verlässt und auf die Straße geht. Wir erzählen auch Bruchstücke, Mosaikstücke von Begegnungen und den Weg eines Menschen, der nicht mehr zu töten ist, da er sich in unserer Mitte schon als Leiche fühlt. Die Gespenster, die heutigen, die neuen und die aus der Vergangenheit, lassen sich nicht verbannen. Das Stück ist etwas für alle, die sich vielleicht fragen, wie kommen wir aus dieser deutschen Vorhölle raus.
Brecht hat ja auch Regieanweisungen gegeben. Werden im Zuschauerraum Plakate mit Parolen wie „Glotzt nicht so romantisch!“ zu finden sein?
Also der Satz spielt eine Rolle, auf Plakaten wird er im Zuschauerraum nicht zu sehen sein.
Trommeln in der Nacht | 11. (P), 12., 23.4. | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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