Auf der Opernbühne war Dvořáks kleine Meerjungfrau „Rusalka“ lange Zeit – jedenfalls im Westen – nur für einen einzigen Hit gut. Mit dem sehnsuchtsvollen Lied an den „lieben Mond“ ließ manche junge Sopranistin das Publikum in romantischer Verklärung dahinschmelzen. So betörend wirkt das tragische Schicksal des unschuldigen Wasserwesens, das aus Liebe zu einem Menschenmann ihre nasse Welt verlassen will, selbst wenn es dabei seine schöne Stimme verliert. Dass in der hektischer werdenden Coda des so sanft beginnenden Liedes bereits der aufkeimende Wahnsinn der kleinen Nixe zu greifen ist, geht im Top-Hit-Schnelldurchgang so mancher Operngala unter. Nun taucht das „lyrische Märchen“ in drei Akten immer öfter auch komplett und ausinszeniert auf deutschen Bühnen auf – so radikal wie Lotte de Beer aber hat bislang kaum jemand Rusalkas geistige Gesundheit in Frage gestellt. In ihrer Inszenierung an der Essener Aalto-Oper sitzt die kleine Meerjungfrau zu Beginn der Handlung bereits zwangseingewiesen in einer Badewanne der Nervenheilanstalt und schüttet ihr Herz statt dem Mond einer großen runden OP-Leuchte aus.
Die Situation ist grotesk, aber keineswegs komisch. Rusalka wird Gewalt angetan. Und dass sie sich in eine Menschen-Frau verwandeln lässt – Lotte de Beer zeigt die Verwandlung als operativen Eingriff, bei der die Hexe ein knöchellanges Korsett zwischen den Beinen aufschneidet – macht ihre Situation nicht besser. Nun ist Rusalka sexuelles Freiwild wie die Menschenfrauen, die in der Jagdszene wie erlegtes Wild aufgereiht werden.
De Beers Konzept ist radikal feministisch. Der schnieke Prinz bleibt ein Uniformträger ohne erkennbares Charakterprofil. Ihm kommt nur eine Stellvertreterrolle zu wie den meisten Figuren in diesem vor Ideen sprudelnden Reigen aus Traumbildern voller psychoanalytischer Symbole. Die Grundidee der Nervenheilanstalt als Handlungsort und der Freudschen Ausdeutung des Märchens mag aktuell auf einer Modewelle der Opernregie mitschwimmen, die stringente Logik ihrer Ausdeutung und die Fülle guter und origineller Ideen allerdings erfüllt die hohen Anforderungen an die erst jüngst zur „Newcomerin des Jahres“ gekürten Regisseurin voll und ganz. De Beer hat mit ihrem Aalto-Debüt ein echtes Glanzlicht zum Abschluss der vergangenen Saison gesetzt. Regiekonzept und Umsetzung greifen wunderbar ineinander: Zum einen ist das dem holländischen Ausstattungsduo „Clement & Sanôu“ (Eddy van der Laan und Pepijn Rozing) zu verdanken. Zum anderen sind es Orchesterchef Tomáš Netopil und das Ensemble, das hörbar zu schätzen weiß, dass die Regie niemals der Partitur zuwider läuft. Sandra Janušaitė singt eine anrührende Rusalka ohne Kitsch, dafür mit großer physischer Präsenz.
„Rusalka“ | R: Lotte de Beer | Fr 8.4.(WA), Fr 15.4. 19.30 Uhr, Do 5.5. 18 Uhr | Aalto-Musiktheater Essen | 0201 81 222 00
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