Was waren das für selige Zeiten, als man noch über die Streiche der Schildbürger lachen konnte. Das Rathaus ohne Fenster? Kein Problem, dann tragen wir das Licht eben mit Eimern ins Gebäude. Das Rathaus am falschen Platz? Kein Problem, dann schieben wir es eben ein paar dutzend Meter weiter. Gegen die neuzeitlichen Streiche sind die historischen harmlose Scherze. Vor einigen Jahren genehmigten die Schildbürger einer Entsorgungsfirma im Dortmunder Hafen, alte Transformatoren in ihre Bestandteile zu zerlegen. Dass bei diesem Vorgang gesundheitsgefährdende Chemikalien freigesetzt wurden, die sowohl die unmittelbare Umgebung der Fabrik wie auch viele der dort tätigen Arbeiter vergifteten, entging viele Jahre den ansonsten eifrigen Kontrolleuren.
Zu jener Zeit planten andere Schildbürger, das Streckennetz ihrer U-Bahn auszubauen. Da jene Stadt an einem ziemlich großen Fluss lag, mussten sie viel Wasser abpumpen, damit ihnen die Baugrube nicht absoff. Dass sie mehr Wasser entnahmen, als der Stabilität des Untergrundes zuträglich war, fanden sie unerheblich. Auch dass beim unterirdischen Bau viel weniger Armierungseisen verwendet wurden als ursprünglich geplant, fiel ihnen nicht unbedingt auf. Erst als eines Tages ihr Stadtarchiv samt Inhalt und zwei bis dahin lebende Menschen in einem riesigen Loch verschwanden, ahnten sie, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben könnten. Ein Jahr später plante man – in einer anderen Stadt am selben Fluss – in bester Feierlaune ein großes Fest auf einem kleinen Platz, dessen einziger Zugang eine Eisenbahnunterführung war. Polizei und Ordnungsbehörde rieten von dem Vorhaben ab, eine Million Menschen binnen weniger Stunden durch ein Nadelöhr zu zwängen. Der gefahrlose Zugang zum Veranstaltungsort sei nicht zu gewährleisten. Lokalpolitiker, Landespolitiker und Veranstalter bestanden aber auf der Feier. Gegen Nachmittag waren 21 Menschen tot und über 500 zum Teil schwer verletzt.
Nach diesen Skandalen wurde jeweils ein Schuldiger gesucht. In Dortmund, so zeigt die aktuelle Entwicklung, tragen die vergifteten Arbeiter eine nicht unerhebliche Mitschuld. Schließlich sei ihre Vergiftung nur eine böswillige Behauptung. Die toxischen Werte in ihrem Körper könnten auch durch übertriebenen Genuss von geröstetem Bohnenkaffee herrühren. Skandal sei es nur gewesen, von einem Skandal zu sprechen. Gravierende personelle Konsequenzen folgten bislang nicht. Anders wurde in Köln und Duisburg verfahren. Der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma trat nicht mehr zur Wiederwahl an. Der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland wurde durch eine eigens für ihn veranstaltete Bürgerentscheidung abgewählt. Zwei Jahre klebte er zuvor aber noch an seinem Stuhl. In jener Zeit wurde in Duisburg eifrig „Schwarzer Peter“ gespielt. Jetzt, da der Sündenbock gefunden ist, scheint wieder Ruhe in die Rhein-Ruhr-Metropole einzukehren. All die anderen, die partout die Loveparade 2010 wollten, schweigen nun beredt oder sind schon immer dagegen gewesen.
Ein weiterer großer Vorteil, einen Schuldigen zu finden, um alle Schuld auf ihn zu laden, ist, dass sich grundsätzlich nichts ändern muss. Dabei zeugen einige der Skandale der letzten Jahre davon, dass sich Lokalpolitiker und Verwaltungen schlicht an ihren größenwahnsinnigen Projekten verhoben hatten. Sauerland wollte als derjenige Bürgermeister in die Geschichte Duisburgs eingehen, der die größte Veranstaltung aller Zeiten in der Stadt ermöglichte. Auch die Kritiker der Kölner Nord-Süd-Bahn, die ursächlich für den Einsturz des Stadtarchivs verantwortlich ist, bescheinigen den Planern des U-Bahn-Baus heillose Selbstüberschätzung. Trägt die Reform des Gemeinderechts in NRW, bei dem der Posten des Verwaltungschefs nicht mehr durch einen verbeamteten Oberstadtdirektor, sondern von einem direkt zu wählenden Bürgermeister ausgefüllt wird, zu dem Größenwahn bei? „Cäsar, Napoleon, Sauerland“ war auf einem Transparent bei einer Demo in Duisburg im Jahr 2010 zu lesen. Wer macht schon gern einen Job, bei dem er für die ihm aufgetragene Verantwortung doch vergleichsweise schlecht entlohnt wird? Idealisten und Narzissten.
Welcher Weg aber führt aus diesem Dilemma? Lohnerhöhungen für Bürgermeister verbieten sich in Zeiten kommunaler Schuldenkrisen. Eine abermalige Änderung der Gemeindeordnung in ihren ursprünglichen Zustand erscheint ebenfalls unrealistisch. Aber in der heutigen Zeit könnte es eine andere, noch effektivere Form der Gewaltenteilung geben. Einen Anfang macht das Informationsfreiheitsgesetz in NRW, das Verwaltungen verpflichtet, Vorgänge zeitnah im Internet zu veröffentlichen. Die Öffentlichkeit als vierte Gewalt könnte in Zukunft manche Katastrophe verhindern. Im Kleinen funktionierte das schon in Bochum. Nach dem Pressewirbel um den Kanzlerkandidaten der SPD und seine üppigen Nebenhonorare konnten Bochumer Bürger im Netz nachlesen, wie hoch der Stundenlohn eines Bundestagsabgeordneten bei seiner freiberuflichen Tätigkeit für die Stadtwerke Bochum war. Dass Peer Steinbrück in Zukunft ähnliche Honorare von den Bochumer Stadtwerken erhält, ist nun eher unwahrscheinlich.
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