Ein Gesetz, das ein Paradox anerkennt? Juristische Texte strebten nach größter Klarheit, stellte der Schriftsteller Navid Kermani fest, als er im Mai 2014 zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ vor dem Bundestag sprach. Aber im Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Eine nur scheinbare Tatsachenbeschreibung, denn die Würde von Menschen ist bedroht und wird zu jeder Zeit verletzt, irgendwo auf der Welt. Wäre sie unantastbar, bedürfte sie gerade keines verbrieften Schutzes – diese Paradoxie würdigte Kermani als Merkmal eines Gesetzes, das den Staat in den Dienst der Menschen stelle, die Würde aller Menschen anerkenne und seinen inneren Widerspruch nicht verberge, sondern in schlichte Worte kleide.
Die Würde aller Menschen anerkennen und den Staat in den Dienst der Menschen stellen. Dieser unverhandelbare Anspruch des Grundgesetzes ist auch eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Terror, der kaum vergangen war, als das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde und von den Alliierten genehmigt. Überhaupt soll es dem Meinungsstreit entzogen sein und erst den Grund unseres demokratischen Handelns bereiten.
Ganz so ist es nicht. Dutzende Eingriffe in seinen ursprünglichen Text hat das Grundgesetz über die Jahrzehnte erfahren, teils höchst umstritten. Eine gewisse Wandelbarkeit ist grundsätzlich nötig, soll es nicht die Freiheit kommender Generationen beschneiden.
Sozusagen von außen hat der politische und gesellschaftliche Wandel den Status des Grundgesetzes verändert: Der Name „Grundgesetz“ drückte Zurückhaltung aus, da es nicht im Namen aller Deutschen erlassen werden konnte. Außen vor blieben die Sowjetische Besatzungszone und das Saarland, dessen Beziehung zu Frankreich ungeklärt war. Seit der Wiedervereinigung aber gilt das Grundgesetz als „Verfassung“ Deutschlands.
Äußeren Wandel bedeutet auch die europäische Einigung, deren Regelwerk nationale Kompetenzen gleichsam überschreibt. Ist das nur folgerichtig? Das Grundgesetz entstand auch in Auseinandersetzung mit der UN-Menschenrechtserklärung vom Dezember 1948, hat also ohnehin internationale Züge. Wie sollte es auch anders sein? Ist es Zeit, einzelne Verfassungen entschieden in gemeinsame Regelwerke zu überführen, wenigstens auf europäischer Ebene? Könnte sich sogar zaghaft ein verbindlicheres Völkerrecht ankündigen, das heute nicht die Geltung beanspruchen kann, die ihm zu wünschen ist?
Im Monatsthema DIE VERFASSUNG DER DEUTSCHEN fragen wir uns im 70. Jahr des Grundgesetzes, welchen Umgang mit Geschlechterdiversität es nahelegt, wie es unsere Rolle in Kriegen reguliert und was es uns an die Hand gibt gegenüber Konzernen, die das Gemeinwohl aus dem Blick verlieren – auf der Suche nach einem Gesetz, das seinen ehrwürdigen Charakter bewahrt und zugleich einer neuen Zeit gerecht wird.
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