Im Jahr 1930 prognostizierte der Ökonom John Maynard Keynes, am Ende des 20. Jahrhunderts werde die Technik in den Industrieländern soweit entwickelt sein, dass jeder nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müsse. Von einem technologischen Standpunkt aus hatte Keynes sicherlich recht, dennoch hat sich seit rund einhundert Jahren nichts am Acht-Stunden-Tag geändert, obwohl die Produktionssteigerung die Keynes’sche Vision hergeben würde. Zwischen 1910 und 2000 ist in den kapitalistischen Metropolen die Zahl der Beschäftigten in Industrie und Landwirtschaft dramatisch zurückgegangen — also jene Arbeiten, die für die Befriedigung materieller (Grund-)Bedürfnisse entscheidend sind. Sie wurden mehr oder weniger wegautomatisiert bei gleichzeitiger Steigerung der Produktion. Die Anzahl der Bürojobs im Management, im Verkauf und im Service ist in der gleichen Zeit um das Dreifache gestiegen. Es scheint, als sei die technische Entwicklung dazu genutzt worden „uns“ mehr statt weniger Arbeit zu bescheren.
Mehr Arbeit trotz technischen Fortschritts
Woran liegt das? Die Technik wurde eingesetzt, nicht um „uns“ von Arbeit zu befreien, sondern uns mehr arbeiten zu lassen. Das stellte der Anthropologe, Autor und Anarchist David Graeber (1961-2020) im August 2013 im Magazin Strike fest. Unter dem Titel: „On the Phenomenon of Bullshit Jobs: A Work Rant“ (etwa: Über das Phänomen der Bullshit-Jobs: Eine Schimpftirade über die Arbeit) heißt es: Weite Teile der Beschäftigten verbrächten ihr „gesamtes Arbeitsleben“ damit, „Aufgaben auszuführen von denen sie insgeheim glauben, dass sie nicht erledigt werden müssten“. Der damit einhergehende „moralische und intellektuelle Schaden“ für die Menschen sei profund, aber niemand spreche darüber.
Bei einer Partyplauderei redete ein Unternehmensanwalt dann doch. Graeber schreibt: „Er war der erste der zugab, dass sein Job äußerst bedeutungslos war, er nichts zur Welt beitrug und dass sein Job, nach eigener Einschätzung, nicht existieren sollte.“ Nach der Veröffentlichung des Artikels über die „Bullshit-Jobs“, meldeten sich weitere Unternehmensanwälte und -beraterinnen, Finanzanalysten, Banker, Mitarbeiter von Public-Relations-, Marketing- oder Personalabteilungen; Vertreter dessen also, was man gemeinhin Management nennt. Sie alle äußerten Unbehagen über die gesellschaftliche Kontraproduktivität und Irrelevanz ihrer Arbeit. Auf dem Papier arbeiten sie nicht selten 50 und mehr Stunden in der Woche, effektiv jedoch nur 15 — so, wie Keynes vorhergesagt hat. Den Rest ihrer Zeit verbringen Bullshit-Jobber mit Motivationsseminaren, Sitzungen, ihrem Facebook-Profil usw.
Glück als Bedrohung
Während Konzerne hemmungslos die Anzahl der Leute zusammenkürzen, die wirklich Wichtiges tun, nämlich Dinge herstellen, transportieren, warten oder reparieren, und für den Rest Arbeit beschleunigen und verdichten, nimmt die Zahl der Bullshitjobber, die oft überdurchschnittlich gut bezahlt sind, zu. Graeber macht keinen ökonomischen, sondern einen moralisch-politischen Grund aus: Seit 40 Jahren hämmern die Botschafter des Kapitalismus den Menschen einen Gedanken ein, der einem guten Leben (für alle!) entgegensteht, nämlich: dass einem Menschen nichts, aber auch gar nichts zusteht, wenn er nicht bereit ist, sich einer rigorosen Arbeitsdisziplin zu unterwerfen — sei sie noch so sinnentleert, ausbeuterisch oder schädlich für Mensch und Umwelt. Denn, so Graeber, die Kapitalisten haben verstanden, „dass eine glückliche und produktive Bevölkerung, die über Freizeit verfügt“, eine „tödliche Bedrohung“ für dieses System darstellt.
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