„Die Zeit, in der die Toten Spaß haben, hat begonnen“ - die das sagen, sind die Toten selbst und dass sie ein lustiges Völkchen sind, zeigt sich schon mit ihrer Kleidung. Ob Kostüm, Pelzmantel oder Overall, alles strahlt in leuchtendem Orange. Gemeinsam hausen sie in einem Unterstand und ihre Anführer sind zwei Straßenkehrer, die sich nicht nur um den Zivilisations-, sondern auch den Menschenmüll kümmern. Und da die Gesellschaft immer neue Opfer und Außenseiter produziert, geht dem Trupp der Nachschub nicht aus. Ihren Spaß haben die Toten, zu denen auch die Leidtragenden gehören, weil sie ihre Ansprüche an die Lebenden geltend machen: Rache für erlittenes Unrecht soll es sein, vielleicht auch Gerechtigkeit und Vergebung.
„Marketplace 76“, die neue Produktion von Jan Lauwers und der Needcompany bei der Ruhrtriennale, hält Gerichtstag. Ort ist, der Titel sagt es, der Marktplatz eines Dorfes, die Agora, und hier veranstalten die Bewohner ein Tribunal, das an Lars von Trier und dessen filmisches Lehrstück „Dogville“ denken lässt. In dem kleinen Dorf sind bei einer Gasexplosion 24 Menschen getötet worden. Der erste Jahrestag enthüllt allerdings eine neue Katastrophe: Die vermisste Pauline kann sich aus der Gewalt des Klempners Alfred - Marc Dutroux und Josef Fritzl lassen grüßen - befreien, der sie 76 Tage in den Katakomben des Dorfes gefangen gehalten und missbraucht hat. Eine Szene, die Lauwers mit verstörender Vehemenz inszeniert: Alfred vergewaltigt das junge Mädchen hinter einem Karree aus vier Edelstahltischen und läuft zwischendurch immer wieder nach vorne, um seine Tat voyeuristisch auf einem Monitor mitzuverfolgen. Und wieder hat die Revolution in Orange eine neue Parteigängerin.
Anders als in früheren Stücken der Needcompany sind die narrativen Knoten des Plots diesmal ziemlich dicht geknüpft. Pauline ist nicht nur vom Klempner missbraucht worden, schon ihr Bruder hat sich an ihr vergangen und umgebracht; und auch die Mutter begeht Selbstmord. Unheil türmt sich auf Unheil und das rückt die Geschichte gelegentlich nah ans Melodram. Andererseits erschweren die immer neuen Wendungen und Facetten der Figuren eindeutige moralische Urteile. Unschuldig ist hier niemand und das macht den Kitt dieses Kollektivs aus.
Zudem lässt die Ästhetik der Needcompany mit Tanzeinlagen, Liedern zwischen Folklore, Chorsatz und Rocksong, Puppenspiel, aber auch ironischen Brechungen tragische Konsequenz nur in homöopathischen Dosen zu. So steigert sich die Brutalität der Lynchjustiz an dem Klempner, der im Brunnen ertränkt und dann am Pranger einer Beleuchtungsbrücke aufgehängt wird, stetig, bis Jan Lauwers als moderierender Entertainer mit einer witzigen Bemerkung die Luft aus der Szene lässt. Und das Einschweben des orangefarbenen Straßenkehrers und Boatpeople Squinty auf einem Ufo mit aufblasbaren Delfinen vom Himmel ist schiere Lust am Spiel. Diese Leichtigkeit, das Jonglieren mit Stil- und Emotionslagen zeugt allerdings auch von eine großen Virtuosität der Neecompany und ihres Leiters. Am Ende geht Jan Lauwers allerdings die alte 68er-Schindmäre durch. Da wird die Liebe und Vergebung als Lösung der gesellschaftlichen Konflikte gefeiert, wenn die Witwe des Klempners als glückliche heilige Hure ein Luftballon-Riesenbaby als gemeinsames Dorfbalg zur Welt bringt – das das nicht funktioniert, dazu muss man nicht mal die Toten befragen.
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