Sperrmüll war gestern, heute ist er bereits Kunst. Nur auf das richtige Arrangement kommt es an. Dann wird das Sammelsurium sogar Filmset, Bühne, Objekt und Installation. Mit „Im Modder der Summenmutation“ zeigt die Bundeskunst(sperrmüll)halle in Bonn eine Ausstellung des norddeutschen Surrealisten, Dadaisten und Filmemachers John Bock. Es ist eine groteske Werkschau vor einer real existierenden Kulisse, in der der Künstler gerade seinen jüngsten Film gedreht hat. Auch mit Besuchern, die sich dann darin wiederfinden können oder in den skurrilen Vorträgen, den sogenannten „Re-Lectures“, die er bereits an der HfBK in Hamburg entwickelt hatte. Wissenschaft im Sperrmüllwirrwarr ist dabei kein Widerspruch; Bock (Jg. ‘65) hat in Hamburg immerhin auch sechs Semester Betriebswirtschaft studiert, bevor es ihn doch in das Universum des Modder teleportierte.
Die Struktur der Schau ist ein gelenkter Zehn-Stationen-Parcours durch zahlreiche Räume. Immer gegen den Uhrzeigersinn, immer durch Stoffwände weiß und schwarz getrennt, immer wieder wartet ein neues visuelles Bombardement an Eindrücken und Merkwürdigkeiten auf den Besucher und ab und an auch einen kunstkennenden Vermittler, der die unvermeidbaren Missverständnisse ausräumen möchte. Wenn ich gewusst hätte, dass Bock gleich nach dem Entree erst einmal einen völlig leeren, weiten, weißen Raum mit einer Vitrine bestückt hätte, in der nichts anderes zur Schau gestellt wird als das Nasenhaar einer Schauspielerin aus einem der Filme, dann hätte alles natürlich anders kommen können. Doch Anarchos der Kunst begegnet man eben ebenso. Also wandere ich falsch herum, lande zuerst im Ausstattungsraum des Filmsets, wo ein mit Zeugs übersäter Schminktisch steht, Perücken und Kostüme herumhängen, gleich anschließend die erste (eigentlich letzte) Setkulisse mit Mähdrescher und Kuhboxen, mit fluxusartigen Figur-Objekten aus Ritterrüstungsteilen und Stofffetzen. Irgendwo steht eine undefinierte 12-Sprossen-Leiter; ob die vom Aufbau liegengeblieben ist oder tatsächlich zur Installation gehört, bleibt ungewiss.
Anders als beim vielleicht seelenverwandten Jonathan Meese, mit dem Bock zwangsläufig fälschlich von den Schubladenverwaltern der Kunsthistorikerzunft immer wieder verglichen wird, hat der Sperrmüll hier eine eher kindliche Seele, die mit ausgesprochener Morbidität preisgibt, wo Meese oft dumpf provoziert. Bock schafft einen vitalen Kosmos aus dem Nichts, dessen Gravitation die Blicke und Gedanken der Betrachter saugt, um sie dann im unverständlichen Modder einer noch nicht stattgefundenen Evolution wieder zerfließen zu lassen.
Unbedingt durchhalten sollte man sein analoges 3D-Kino, das der überzeugte Cineast im Mittelteil aufgebaut hat. Manchmal gehen dort Zuschauer zu früh und bringen sich dann um den verdienten Lohn des leichten, mechanischen Grusels, bevor sie in die Filmretrospektive wandern, wo in zehn grünen Boxen Blut und Speichel splattern, Science und Fiction sich vereinen. Sehen sollte man dieses kaum beschreibbare Modder-Universum unbedingt. Wenn Sie sich jetzt auf den Weg nach Bonn machen, ist der Film, der darin gedreht wurde, auch schon fertig.
„John Bock – Im Modder der Summenmutation“ I bis 12.1. I Bundeskunsthalle Bonn I www.bundeskunsthalle.de
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