Das Publikum ist ihr Werkstoff, das gemeinsame Leiden ihre Obsession. Die Performancekünstlerin Marina Abramović hat kein Interesse an kleinen Fragestellungen, es geht ihr um die großen Dimensionen, die Welt als Ganzes, am besten das Universum dazu. Das dort atemlose Stille herrscht, ist für die Darstellerin so gewöhnlich wie für die Künstlerin, aus der solche Projekte hinausfließen. Schon in den späten 1970ern bekam durch sie der Begriff „Sit In“ eine neue Dimension. Gemeinsam mit ihrem damaligen Partner und Kollegen Ulay (eigentlich Frank Uwe Laysiepen aus Solingen) zeigte sie das Sitzen als Handlung, das Fasten als Aktion. „Durch das Nachtmeer“ hieß diese Performance 1982 bei der schönsten documenta aller Zeiten (es war die 7. unter Leitung von Rudi Fuchs). Wochenlang saßen sich die beiden an einem Tisch jeden Tag sieben Stunden lang schweigend gegenüber. Ich schäme mich noch heute, damals nach wenigen Minuten die Szenerie verlassen und ihre Dimension nicht erkannt zu haben. Der eigene Körper als Material war zu dieser Zeit nicht so selten in der noch jungen Stil-Ecke, aber die Darstellung des effektiven Werts von Zeit machte all ihre Performances zu etwas Besonderem. Das Duo trennte sich spektakulär, aber unblutig. Das ist erwähnenswert, angesichts des Überschusses an Energie damals. Was hätte passieren können bei „Rest Energy“ (1980)? Wo sich beide gegenüber standen, Ulay einen gespannten Bogen nebst Pfeil auf Marinas Herz gerichtet hatte und mit zunehmender Zeit und abnehmender Konzentration ihre immer schneller werdenden Herztöne über Mikros zu hören waren? Das Paar hat sich 2010 in New York wieder versöhnt, als Ulay bei Marinas Performance „The Artist is Present“ im MoMA überraschend auftauchte (das Video ist herzergreifend). In Bonn werden zahlreiche Re-Performances zu sehen sein, eigentlich Originale, nur dass die Künstlerin nicht mehr alles selbst performen kann und muss.
Selbst wenn man Abramović‘ Status in der Kunstgeschichte immer noch mit „radikal, umstritten und bewundert zugleich“ kennzeichnet, in der Bundeskunsthalle setzt sie sich wieder mit Erinnerung, Schmerz, Verlust, aber auch mit Vertrauen in sich und das Publikum auseinander. Die Ausstellung zeigt alle performativen Schaffensphasen. Ausgesuchtes, privates Archivmaterial verdeutlicht zusätzlich die enorme Bandbreite der Künstlerin, für die ihre Vergangenheit in Ex-Jugoslawien und die europäische Gegenwart Teile ein und desselben Kosmos sind, aus dem sie ihre Inspiration bezieht. Als Beispiel sei „Balkan Baroque" (1997) genannt, wo sie auf einem Haufen blutiger Knochen sitzt und diese über Tage jeweils sechs Stunden lang (!) sauber putzt. Dafür bekam sie 1997 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig. Wenn alles so ist wie im vergangenen Jahr in Stockholm, wird auch der schwarze Wellblech-Renault-Bus ausgestellt, in dem Abramović und Ulay über Jahre hunderttausende Kilometer von Ausstellungsort zu Ausstellungsort gereist sind. Alles kulminierte schließlich auf der chinesischen Mauer 1988. Zum letzten Mal bewegten sich die beiden Pole mit „The Lovers – The Great Wall Walk“ aufeinander zu. Oder um es mitdem Zitat des chinesischen PoetenHuang Xiang, das dem Titel zugefügt ist, zu sagen: „Die Erde ist klein und blau. Ich bin ein kleiner Spalt darin.“ Ulay marschierte in der Wüste Gobi los, Marina am Gelben Meer. 2000 Kilometer legten sie in 90 Tagen zurück, bis sie sich auf halbem Weg trafen. Erst über 20 Jahre später würde es das nächste Mal sein.
In NRW ist Marina Abramović seit der Re-Performance von „Luminosity“ (1997) bekannt, im Essener Folkwang Museum war 2012 zur RuhrTriennale die Ausstellung „12 Rooms“ zu sehen. Einer der Räume zeigte eine nackte Frau, die hoch über den Köpfen an der Wand auf einem kleinen Fahrradsitz hocken muss. Arme und Beine abgespreizt, entstehen ein Kreuz und die Assoziation dazu zwangsläufig. 15 Jahre zuvor hat die Künstlerin in Berlin noch selbst sechs Stunden auf diesem Sitz gesessen, in Essen teilten sich sechs Mädels und wohl ein Triebtäter den Raum. Machen sie eine Sternfahrt nach Bonn.
Marina Abramović – The Cleaner | 20.4.-12.8. | Di & Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 10
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