trailer: Herr Winkelmann, wir sitzen dem U-Turm gegenüber. Sie haben dessen „Fliegende Bilder“ entworfen. Jetzt gerade flattern dort Tauben. Ist das Ruhrpott-Folklore oder wie kam es dazu?
Adolf Winkelmann: Bei der Geschichte kommt mein längst verstorbener Vater ins Spiel. Mein Vater war passionierter Hobbyjäger – ohne eigene Jagd, dazu fehlte das Geld. Aber er hatte in den 60er-Jahren einen Deal mit der Stadtverwaltung: Er durfte mit seinem Präzisions-Kleinkalibergewehr die verwilderten Brieftauben von den Dächern der Stadt schießen. Und damit das nicht so mühsam war, – du kannst eine erschießen und treffen, aber der Knall verscheucht alle anderen – hat er sich dann noch beim Polizeipräsidenten einen Schalldämpfer genehmigen lassen. Da saßen also die Täubchen auf der Dachkante und wunderten sich, dass eine nach der anderen vom Dach fiel. Das war mein Vater. Als es mit dem U-Turm losging, dachte ich, da ist Wiedergutmachung angesagt und ich muss jetzt mal den Dortmundern neue Tauben schenken (lacht): sieben Meter groß und nur aus Licht.
Sie sind in Dortmund aufgewachsen. Wie haben Sie den Wandel dieser einstigen Brauerei zum Kulturzentrum erlebt?
Das Gebäude hat mich schon als Kind fasziniert. Ich habe hier, zehn Häuser weiter, mein Kinderzimmer gehabt und habe immer herausgeguckt. Als Kind fragte ich mich schon, warum dieses Gebäude so merkwürdig aussieht. Das sieht ja aus wie eine Kathedrale. Damals habe ich mich gefragt, ob die Bauarbeiter zu viel Beton angemischt haben und deswegen dieses Stufenpyramiden-Dach darauf gebaut haben. Deshalb habe ich mich immer schon für dieses Ding interessiert. Die Dortmunder Union-Brauerei war mal die größte Brauerei Europas. Aber mit dem Zechensterben stagnierte auch der Bierkonsum. Immer weniger durstige Bergleute, immer mehr Versicherungsangestellte, die, wenn schon Bier, dann Premium-Pils aus dem Sauerland tranken. In den 90er-Jahren war es vorbei. Die ehemals größte Brauerei Europas war am Ende. Und in Dortmund stand ein ungenutztes Brauhaus herum.
Ist diese Videoinstallation damit auch ein Symbol für den Wandel in dieser Region?
Symbol? Weiß ich nicht. Die Dortmunder schauen auf den Turm mit den leuchtenden Bildern wie auf ihr Lagerfeuer. Es ist ein dauerhafter Dialog zwischen der Stadtgesellschaft und dem U-Turm entstanden. Es fing damit an, dass sich die Leute fragten, wie denn diese merkwürdigen Bilder an diesen falschen Ort kommen. Dann fingen sie an, zu interpretieren und darüber zu reden. Die Tauben kommen z.B. immer zur vollen Stunde. Ein Kollege meinte neulich zu mir, wenn er auf dem Weg zur Arbeit die Tauben sieht, weiß er, dass er zu spät kommt (lacht). So findet diese Kommunikation statt.
Das war nicht immer so. Als Sie hier als junger Regisseur anfingen, war das Ruhrgebiet noch ziemlich grau. Wo lagen die Herausforderungen und Unterschiede zu anderen Metropolen, um sich hier als Filmemacher zu etablieren?
Es war wirklich ziemlich grau. Fotografen berichteten, dass es im Ruhrgebiet durchschnittlich zwei Blenden dunkler war als sonst in der Republik. Der Ruß in der Luft hat also sehr viel Sonnenlicht geschluckt (lacht). Es war auch nicht vorgesehen, dass es hier Filmemacher gab, als ich hier 1960 mit meiner Kamera loslegte. Es war ja noch nicht mal vorgesehen, dass hier wer studieren konnte. Für mich war es ein extrem langer Weg, mir die Möglichkeiten zu erschleichen, hier Filme zu machen. Ich wollte ja richtige Filme machen, die im Kino laufen.
Aber irgendwie hat es ja geklappt. Was mussten Sie tun?
Ich habe Kurzfilme für das WDR-Jugendprogramm gedreht, die das Sendeformat von 45 Minuten vorwiesen. Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen, zwei solcher Filme zu machen, die aber eigentlich zwei Teile eines einzigen Films waren. Ich brauchte sie nur zusammenzukleben, um einen 90-Minüter zu haben. So ist der Film „Die Abfahrer“ entstanden. Dieser lief erst völlig unbemerkt im Ersten, sonntagmorgens um zehn Uhr oder so. Danach bin ich mit diesem Film zur Berlinale gegangen. Dort traf ich einen Münchener Verleiher, dem der Film gefiel. Er entschied sich dann für diesen Slogan der unter dem Titel auf dem Plakat abgedruckt wurde: „Der erste Film aus Dortmund“. An diesem Slogan kann man den ganzen Kampf ablesen. Es war bis dahin überhaupt nicht denkbar, sich im Ruhrgebiet mit Film und Kultur zu beschäftigten.
In Ihren folgenden Filmen setzten Sie sich dann stark mit Motiven des Ruhrgebiets wie dem Bergbau oder dem Fußball auseinander. Wie wichtig ist diese spezifische Geschichte noch heute?
Das ist bei uns nicht wichtiger als woanders. Ich habe 1980 einen Film gemacht, der hier spielen sollte. Da habe ich mich gefragt: Wovon soll der handeln? Ich dachte: klar, am besten vom Bergbau, der ja schon seit zwanzig Jahren langsam zu Ende ging. Bald gibt es keinen Bergbau mehr, also machen wir doch irgendetwas darüber. Doch was lässt sich in einem Kinofilm darüber erzählen? Ich konnte ja nicht zeigen, dass es den Bergleuten so schlecht geht. Dann hab ich gedacht, ich drehe das Ganze mal um und schildere einen Protagonisten, der es unter Tage besser findet als hier oben.
Sie meinen den Film „Jede Menge Kohle“?
Ja. So entstehen solche Geschichten. Das mache ich aber nicht, um mich mit der Ruhrgebietsgeschichte auseinanderzusetzen, sondern weil das einfach selbstverständlich ist. Als Künstler habe ich mich oft gefragt, warum ich eigentlich noch hier bin. Alle gehen ja weg. Wer in Bochum oder an der Folkwang-Universität Schauspiel studiert, ist ja direkt nach seinem Abschluss in Berlin. Und ich bin mein Leben lang hier geblieben. Meine einzige Antwort darauf: Wenn ich hier in Dortmund aus der Haustür komme, stehe ich sofort im wirklichen Leben und rieche die Geschichten, die mich als Künstler interessieren. Das, was ich mache, hat immer etwas mit Realismus zu tun. Das interessiert mich – egal, ob es historisch ist oder nicht. Es kann unter oder über Tage sein. Hauptsache, ich kann etwas über wirkliche Menschen erzählen.
Auch in Ihrem letzten Film „Junges Licht“ nach einem Rothmann-Roman ging es um den Bergbau. Warum kann das Ruhrgebiet nicht von der eigenen Vergangenheit loslassen?
Das sehe ich anders. Wir im Ruhrgebiet blicken in die Zukunft. Das ist meine Wahrnehmung. Hunderttausende von Menschen sind ins Ruhrgebiet gekommen, weil es hier Arbeit und Brot gab. Dafür haben sie in ihrer Heimat alles verlassen. Doch kaum waren sie hier heimisch geworden, wurde ihren Kindern und Enkeln gesagt: „Der Bergbau hat keine Zukunft.“ Fünf Millionen Menschen wohnen heute im Ruhrgebiet, angelockt von einer Industrie, die es längst nicht mehr gibt, und die das Land nachhaltig zerstört hat. Aber wir haben uns entschlossen, nicht aufzugeben.
Nostalgische Vergangenheitsbewältigung gehört also zum Blick nach vorne?
Natürlich gehört dazu, dass wir uns vergewissern, wo wir herkommen. Überall ist es selbstverständlich, den Kindern und Enkeln zu erzählen, wie das Leben früher einmal war. Das muss man doch machen! Das ist nicht nostalgisch und kein Klischee. Ich habe ja 40 Jahre mit Studierenden zu tun gehabt. Die schauen alle nach vorne und fragen sich, wie es weitergehen soll. Dieser Blick in die Zukunft ist auch deswegen so interessant, weil wir im Ruhrgebiet schon Dinge erlebt haben, die auf andere Regionen erst noch zukommen.
Sie meinen den Umgang mit Altlasten wie dem Grubenwasser?
Wir haben uns den Boden unter unseren Füßen weggegraben und erlebt, wie das Ruhrgebiet an manchen Stellen um bis zu dreißig Meter abgesackt ist. Das könnte eine interessante See- und Sumpflandschaft werden. Aber hier stehen Städte wie Dortmund, Bochum und Essen. Damit die stehen bleiben, dürfen wir nicht aufhören zu pumpen. Never. Natürlich fragt man sich, ob das ein nachhaltiger Umgang mit diesen Ewigkeitslasten ist. Wir haben unsere eigene Umwelt schon ziemlich zerstört. Wir haben alles kaputt gemacht, was wir kaputt machen konnten. Anderen können wir also zeigen, wie es aussieht, wenn man das alles bereits hinter sich hat. Deswegen ist dieses Ruhrgebiet ein Blick in die Zukunft. Das hat nichts mit einem nostalgischen Blick nach hinten zu tun. Man hat alles verloren: den Bergbau, die Stahlwerke, die Brauereien, Hunderttausende von sicher geglaubten Industrie-Arbeitsplätzen. Und dazu noch den Boden unter den Füßen. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen und sich neu zu erfinden.
Taugt dieser Blick in die Zukunft auch als Thema Ihres nächsten Films?
(lacht) Über meine nächste Arbeit kann ich nichts sagen. Im Moment bin ich noch mit meinem erfolgreichsten Werk beschäftigt: dem U-Turm. Er macht Dortmund und das Ruhrgebiet über die Grenzen dieses Landes bekannt. Gehen Sie mal auf Wikipedia und geben ein: Videokunst. Dort ist ein Artikel mit einem einzigen Bild: vom U-Turm. Stellen Sie sich mal vor, diese Bilder wären in Dortmund nicht mehr da. Sollen wir es mal ausschalten?
Ich bin gespannt, zeigen Sie mal
Dann ist es hier sowas von tot.
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