Die Götter sitzen bereits im Theatersaal, noch bevor diese Theaterpremiere beginnt. Auch Samantha Ritzingers Wasserverkäufer Wang agiert mit einem Einkaufswagen voller Pfandflaschen bereits auf der Bühne, während die letzten Besucher:innen noch ihre Plätze suchen. Wang bittet das Publikum, sich nach links oder rechts umzublicken. Bis sich Hân Nguyên und Lene Dax in roten Latexschürzen und ebenso knalligen XXL-Caps als Götter zu erkennen geben. Im Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“, das Bertolt Brecht unter der Mitarbeit von Ruth Berlau und Margarete Steffin verfasste, zieht es diese überirdischen Wesen auf die Erde, weil sie einen guten Menschen inmitten des egoistischen und ausbeuterischen Treibens suchen, einen, der ihnen Obdach gewährt.
In Sapir Hellers Inszenierung dieses Klassikers seilen sich Nguyên und Dax zuweilen auch von der Decke ab, hinunter zu zwei Kassen. Denn die Modellstadt Sezuan erscheint als Supermarkt, als Warenkosmos, in der die Wände grau sind und nur die Produkte in den Discounterregalen bunt erstrahlen (Bühne und Kostüme: Viktor Reim). Deswegen hüpfen Jan Pröhl als Kartoffelsack oder Christopher Heisler als Knabberbox der Marke „tja“ über die Bühne. Nur Sümeyra Yılmaz‘ Shen Te, die Prostituierte, auf die die Götter wetten, bleibt in Alltagsklamotten.
Die Götter geben ihr daher ein Startkapital, von der sich She Te einen Tabakladen kauft. Als gute Seele lockt sie allerhand Bewohner an, die in Not sind. Das gilt ebenso für den arbeitslosen Yang (Philipp Noack), in den sie sich verliebt, der sie aber ausnutzt. Bei Brecht kam das Lumpenproletariat nie gut weg. Vielleicht erscheint es deswegen wie ein passender Regiekniff, dass Yılmaz‘ She Te wie in einem Reality-Soap-Format in die Kamera spricht.
Heller greift im Untertitel den Namen der Ursprungsfassung von Brechts Stück auf: „Die Ware Liebe“. Denn wie soll sich eine (Nächsten-)Liebe entwickeln, wenn durch alles in der Welt die Kälte des Kapitals strömt und alles Zwischenmenschliche als Wert aufgelöst ist? She Te kann sich nicht anders behelfen als durch einen schizophrenen Balanceakt. Ihr Alter Ego Shui Ta fährt die Ellbogen aus und greift marktlogisch durch. Das signalisiert allein schon ihr Kleid aus eingeschweißten Fleischbrocken, noch so ein Warensymbol des Kapitalismus.
Der gute Mensch von Sezuan | 7., 27.10. je 19.30 Uhr | Grillo-Theater, Essen | 0201 812 22 00
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