Das Leben ist auf eine eigenartige Art und Weise kompliziert. Cheryls Leben ist das auch, aber sie hat es sorgfältig mit Systemen geordnet, die ihm eine nicht ganz nachvollziehbare Logik verpassen. So ergibt es für Cheryl Sinn, dass sie von ihrem Farbtherapeuten die Essenz der Farbe Rot verschrieben bekommen hat: eine durchsichtige Flüssigkeit gegen den Kloß im Hals. In fremden Kindern erkennt sie Kubelko Blondy – ein Baby, das Cheryl mit neun einmal halten durfte – und führt mit ihnen Selbstgespräche. Aber Cheryl ist nicht einsam; sie ist verliebt in den 64-jährigen Philip aus dem Vorstand. Bis Philip ihr gesteht, dass er eigentlich nur Interesse an einer 16-Jährigen hat und nun Cheryls Erlaubnis möchte, endlich mit ihr schlafen zu dürfen.
Man könnte denken, das Chaos sei für Cheryl (Maja Beckmann) bereits immanent. Aber aus ihrer Perspektive wird es das erst mit ihrer Mitbewohnerin Clee (Anna Drexler), die ihre Teller nicht spült, regelmäßig ausrastet und sogar gewalttätig wird. Ihr gemeinsames Leben findet in der Inszenierung von Christopher Rüping auf einem abgeschrägten Trainingsboden statt. Man hat das Gefühl, die Schauspielerinnen könnten von der Bühne jederzeit ins Publikum und damit auch in einen selbst hineinfallen – und in gewisser Weise tun sie das auch. Die Geschichte um Cheryl und Clee ist ein bisschen wie das Zugunglück, von dem man seine Augen nicht lösen kann. Aber trotz all dem Schlechten – der Gewalt zwischen den beiden, der sexuellen Übergriffigkeit von Philip, in deren Rolle Anna Drexler mit überspielten Ekel hin und wieder schlüpft, den Problemen damit, die eigene Sexualität aus sich selbst heraus verstehen zu können – ergeben sich überraschend viele schöne Momente. Die Exzentrik der Charaktere aus Miranda Julys Roman bringt einen Witz mit sich, der einen auch mal über Dinge lachen lässt, die vielleicht eigentlich alles andere als witzig sind. Am Ende stehen die Charaktere über der Ernsthaftigkeit – Rüping lässt sie sie sogar bildlich transzendieren in einem Schlussbild, in dem sie an Seilen über der Bühne schweben, während die fantastische Sängerin, Musikerin und bei Rüping hin und wieder auch als Kommentatorin herhaltende Brandy Butler den umgedichteten Elton-John-Song „Rocket Girls“ singt.
Das Stück hinterlässt die Frage, ob die Aufarbeitung des Geschehenen etwas ist, über das man hinweggehen darf, wenn alle am Ende ein bisschen glücklicher sind als vorher, ohne zu verstehen, wie zweifelhaft die Verhaltensweise von einem und seinem Umfeld überhaupt sind. Gleichzeitig scheint es auch nicht immer so einfach, eigene Probleme überhaupt als solche zu erkennen – zum Beispiel, weil man eine queere Frau in einer Gesellschaft ist, die andere Lebenskonzepte als sich in Philip aus dem Vorstand zu verlieben nicht einmal denken lässt. So bleibt man wie Cheryl mit einem dauerhaften Kloß im Hals zurück.
Cheryls Kloß löst sich während des Stücks. Irgendwie findet sie Befreiung auf einem Weg, der alles andere als ideal ist. So wird der Abend zur Hommage an das Menschsein in seinem Facettenreichtum – besonders dann, wenn es zu kompliziert wird, um mehr damit zu machen, als es einfach zu zeigen.
Miranda Julys Der erste fiese Typ | R: Christopher Rüping | 15., 16.6. je 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Freundin und Konkurrentin
„Meine geniale Freundin“ am Schauspielhaus Bochum
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Gegen Remigrationspläne
Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 05/24
Ein Baum im Herzen
„Eschenliebe“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 03/24
Mit Psyche in die Unterwelt
„Underworlds. A Gateway Experience“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 01/23
Tonight's the Night
Musikalische Silvester an den Theatern im Ruhrgebiet – Prolog 12/22
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
Das Kollektiv als Opfer
„Danza Contemporanea de Cuba“ in Bochum – Tanz an der Ruhr 12/22
„Es geht um eine intergenerationelle Amnesie“
Vincent Rietveld über „Bus nach Dachau“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/22
Keine Versöhnung in Sicht
„Einfach das Ende der Welt“ am Schauspielhaus Bochum – Prolog 10/22
The Return of Tragedy
Theater im Ruhrgebiet eröffnen die neue Spielzeit – Prolog 09/22
„Viele Leute sind froh, dass sie in Bochum sind“
Liesbeth Coltof über „Hoffen und Sehnen“ – Premiere 06/22
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20