Viel mediale Aufmerksamkeit wurde Julia Wissert zuteil, als sie im Herbst 2020 mit 36 Jahren und als erste Schwarze Frau die Intendanz im Schauspiel Dortmund antrat. Zwei Spielzeiten später steht sie wegen der geringen Zuschauerzahlen in der Kritik. Und die Zahlen sprechen für sich: In der Spielzeit 21/22 konnte das Schauspiel nur eine Auslastung von rund 30 Prozent verbuchen – inklusive Freikarten. Diese Bilanz ist also ein Anlass, den Programmansatz zu evaluieren.
Es ist jedoch problematisch, dass in der Berichterstattung über diese geringe Auslastung die Perspektive der Lokalpolitik wiedergegeben wird, ohne theaterkritische Gesichtspunkte zu erwähnen. Stattdessen wird in den Lokalblättern unhinterfragt die Diagnose abgedruckt, der zufolge es an „klassischem Schauspiel“ fehle, an Repertoireklassikern wie Brecht oder Molière.
Ein Blick auf die Programmpunkte zeigt: Wissert brachte den „Faust“ oder ließ Regisseur Poutiaire Lionel Somé eine antipatriarchale Interpretation von Shakespeares „Der Sturm“ aufführen. Hinzu kamen zwar Produktionen wie „Autos“ oder „Der Platz“, die jedoch mit dem Theatertrend korrespondieren, auf der Bühne eine verfehlte Klima- und Klassenpolitik zu thematisieren. Denn anders als von den lokalpolitischen Stimmen suggeriert, gibt es keine Erfolgsgarantie durch ein klassisches Repertoire. An der Berliner Volksbühne etwa begann der damalige Intendant Chris Dercon die Post-Castorf-Ära mit Einaktern von Beckett oder Goethes „Iphigenie“ – und war schnell unbeliebt bei den Besucher:innen.
Der Tenor: Wissert habe das Schauspiel zum Experimentallabor verwandelt und damit das treue Publikum vergrault. Tatsächlich trat sie mit dem Ziel an, eine heterogene Gesellschaft zu repräsentieren, was sich etwa in den zahlreichen queerfeministischen Festivals unter ihrer Intendanz widerspiegelt. Vorbild für Wissert war z.B. das Theater Zuidplein in Rotterdam, das sich inmitten eines „Problemviertels“ als Emanzipationsanker etablierte und dafür auch die hiesige Zivilgesellschaft integrierte. Warum sollte trotz der offensichtlichen Anlaufschwierigkeiten Zuidplein keine langfristige Orientierung für Dortmunds Schauspiel sein, einer Stadt, in der jede:r Vierte unter Armut leidet? Ein Teil der Lokalpolitik sieht darin einen Irrweg.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Zwischen Widerstand und Well-being
Feministischer Thementag am Schauspiel Dortmund – Gesellschaft 03/23
Dortmunder Turbulenzen
Schauspielchefin Julia Wissert unter Druck – Theater in NRW 07/22
Revolution oder Romantik
Sartres „Das Spiel ist aus“ in – Bühne 01/22
„Wir erzählen die Geschichte mehr von innen heraus“
„Das Mrs. Dalloway Prinzip / 4.48 Psychose“ am Theater Dortmund – Premiere 09/21
Kampf den Ismen und der unerfüllten Liebe
Sascha Hawemann inszeniert in Dortmund Dostojewskis „Dämonen“ – Auftritt 02/20
Divers und vielschichtig
Julia Wissert wird Intendantin in Dortmund – Theater in NRW 06/19
Love is in the air
Der Theater-März im Ruhrgebiet – Prolog 02/19
Einfach durch den Geilomat gedreht
Gordon Kämmerer inszeniert in Dortmund Molières Tartuffe als Dauerorgie – Auftritt 01/19
Den Bock zum Tontechniker gemacht
Neuer Jörg Buttgereit in Dortmunder Theater-Studio – Theater Ruhr 11/18
Einstein-Rosen-Brücke eröffnet
„Die Parallelwelt“: Kay Voges am kritischen Punkt der Theater-Digitalisierung – Auftritt 10/18
Hysterische Lebensartisten
Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ am Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 02/18
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24