Nie war uns Griechenland näher als in diesen Tagen. Eine letzte Veranstaltung vor der Sommerpause in der Philharmonie Essen erinnert uns daran, dass jetzt möglicherweise die heißen Tage kommen, Urlaubszeit, die Kulturtempel schließen, nur die Akropolis nicht. Sie thront im milden Südwind über der klimatisch begünstigten Wiege der Demokratie, die allerdings seit Jahrzehnten mit drückendem Smog zu kämpfen hat, genannt „to nefos=die Wolke“. Vielleicht regelt die Mutter Natur in ihrer unnachahmlichen Art in naher Zukunft auch diese steigende Belastung. Wachstum ist kein Allheilmittel, besonders nicht bei städtischer Luftverschmutzung.
In dieser Metropole wirkte der griechische, in Paris studierte Komponist Mikis Theodorakis, der im Juli nun sein 90. Lebensjahr vollenden kann. Das Folkwang Kammerorchester Essen und der Universitäts-Chor ehren den u.a. berühmten Filmkomponisten auch mit einem Werk, das den europäischen Gedanken bereits in den 60iger Jahren vorweggenommen hat: Griechische Folklore mit ihren prägnanten Instrumenten trifft hier auf westliche Symphonik.
„Ich gehöre einer Generation an, die sich einem extremen Idealismus verschrieben hatte. Mein ganzes Leben war ein endloser Kampf zwischen dem Idealischen und dem Wirklichen, dem Alltäglichen und der Vision.“ Dieser Satz aus der Feder von Theodorakis birgt die unglaublichen Abenteuer, Siege und markanten Niederlagen des politisch unbeugbaren jungen Griechen, 1925 auf der Insel Chios geboren, während des Krieges gefoltert und mehrfach lebendig begraben, Widerstandskämpfer aus dem Exil, Politiker und Friedensprediger über Jahrzehnte, eine Symbolfigur mit starkem Arm.
Daneben schuf er zunächst klassisch orientierte Musiken, wechselte zu folklorischer Metasymphonik und etablierte sich spätestens nach seiner Musik zum Film „Alexis Zorbas“ ab 1964 für rund zwei Jahrzehnte auf künstlerischer Ebene als Filmkomponist, mit und ohne Sirtaki. Diese Musik wird in der Form einer Ballettsuite auch im Essener Konzert erklingen. Wer jetzt aber denkt, das sei Mikis erfolgreichste Komposition gewesen, der irrt. Wirkungsvoll waren auch die Vertonungen „Canto general“ nach Versen von Pablo Neruda, die weltweit strahlte, und das jetzt aufliegende, als Volksoratorium bezeichnete „Axion esti“, eine „Bibel des griechischen Volkes“, so der Komponist. Bouzouki, Mandolinen, Gitarren und die Santuri, ein Hackbrett, treffen auf ein Sinfonieorchester, einen Chor und einen Baritonsolisten. Die erste Einspielung erzielte Absatzzahlen, die „Zorbas“ um das Fünffache übertrafen.
Einen Maestro wie Theodorakis, einen Musiker mit mehr als eintausend Werken aus allen Gattungen bis zur großen Oper, und gleichzeitig einen politischen Volkshelden Theodorakis, der die Freiheit selbst über sein eigenes Schicksal stellte, einen solchen Künstler gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal. „Axion esti“ heißt: „Es ist würdig.“ Der Dichter und Literaturnobelpreisträger Odysseas Elytis meint das griechische Volk – und eigentlich die ganze Menschheit.
Gerhard Pauli, Bariton | Chor der Universität Essen, Folkwang Kammerorchester Essen | Hermann Kruse, Leitung | So 5.7. 17 Uhr | Philharmonie Essen | www.philharmonie-essen.de
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