Das stARTfestival in Leverkusen setzt risikobereit auf das Außergewöhnliche und das Ungewohnte, Premierenfieber heißt der Rauschzustand, der sich zum Frühlingsaufbruch einstellt. Damit fokussiert sich die einst über das ganze Jahr verteilte Kulturspielzeit der Bayer AG auf ein dreimonatiges Festspielformat, das sich in seiner vierten Aufgabe aus rheinländischer Sicht zur Tradition gemausert hat. Zentrale Spielstätte ist das mehr als einhundert Jahre alte Erholungshaus an der City Leverkusen, aber einige attraktive Events verführen auch zu lohnenden Exkursionen ins Umland – die Weltfirma schaut über den Tellerrand des Hauptstandortes hinaus.
Die Festival-Idee einer Programmierung abseits ausgetretener Pfade resultiert natürlich auch aus der grandiosen bzw. einzigartigen Lage im Kulturland NRW. Als Industrie-Standort am Rhein tritt die Veranstaltung aus dem Schatten der großen Konzerthäuser und Kulturtempel in Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen oder Dortmund, die eine kulturelle Grundversorgung auf höchstem Niveau garantieren. Und das städtische Kulturamt bietet ja auch eine eigene Spielzeit. Für das stARTfestival aber bieten selbst die Stars der Szene immer besondere Abende an: Quere Besetzungen, multimediale Spektakel oder ausgefallene Literatur.
Wer selbst das Kreative aktiv sucht, der ist gut beraten, selbst auf die Zukunft einzuwirken. Und das funktioniert dank einer stARTacademy, einem parallel zum Musikfest geführten Förderprogramm für junge Musikanten. Zum Jubiläum „30 Jahre Bayer in Weimar“ können jetzt die Leverkusener erstmals eine „eigene“ Sängerin als Kulturbotin schicken, die ägyptische Sopranistin Fatma Said. Als erste Ägypterin erhielt sie ein Stipendium für das Opernstudio an der Mailänder Scala. Sie gibt einen Liederabend auf der legendären Wartburg in der Bach-Stadt Eisenach (am 16.4.). Ein Gipfelpunkt im Programm: Schuberts „Der Hirte auf dem Felsen“ in luftiger Höhe, umgarnt von Klavier und den Tönen der Klarinette, intoniert von Deutschlands bekanntester Klarinettistin Sabine Meier.
Ein weiterer diesjähriger Standort des Festivals befindet sich in Wuppertal, als bedeutender Industriestandort des 19. Jahrhunderts Keimzelle und Motor des heutigen Weltunternehmens. Hier steht ebenfalls auf einem Hügel die Historische Stadthalle, ein herrlicher eklektizistischer Bau, der zur Jahrtausendwende aufwendig und liebevoll restauriert wurde. Sein Konzertsaal wird häufig mit dem Goldenen Saal im Wiener Musikverein verglichen – die Wiener Philharmoniker gastierten hier regelmäßig in einer eigenen Abo-Reihe.
Auf so geweihtem Parkett setzt das Festival ausschließlich auf Stars, z.B. auf die Moldawierin Patricia Kopatchinskaja. Sie konnte vor kurzem noch im Duett mit dem Cellostar Sol Gabetta begeistern, stampfte mit Glöckchen an den Beinen den Rhythmus in den Bühnenboden und bracht total abgedrehte eigene Werke zu Gehör: sehr wild, sehr frei und sehr dissonant fielen die sogenannten „Ghiribizzi“ von PatKop (ihr Kürzel) aus.
In Wuppertal vertraut sie auf den Routinier Phillippe Herreweghe und das französische Orchestre des Champs-Élysées auf alten Instrumenten. Ihre Stückwahl: Schumanns Violinkonzert, das dem Widmungsgeiger Joseph Joachim einst so suspekt und bereits geistig umnachtet erschien, das er es für einhundert Jahre wegsperren wollte. Das ist ein fantastisches Werk für die Allrounderin „crazy“ Kopatchinskaja (5.5.).
Ihr Kollege Frank Peter Zimmermann, ein Duisburger Junge mit absoluter Weltkarriere, gastiert nur einen Monat später (8.6.) an gleichem Ort, ebenfalls ein fantastischer Termin, diesmal mit dem Wohlfühl-Orchester aus Bamberg. Die Traditionalisten begeben sich mit Zimmermann auf Zeitreise in die Klangwelt der Gregorianik. Der italienische Komponist Ottorino Respighi, den die alten liturgischen Gesänge „wie eine Sucht“ ergriffen hatten, bannte sie in sein „Concerto gregoriano“. Respighi steht für wunderschöne rückgewandte Orchesterklänge. Im Violinkonzert wirkt der Solist angeblich wie ein Kantor in einer alten religiösen Zeremonie, und das Orchester verwandelt sich in einen Chor der Gläubigen – dieses weitere Wunder (ein erstes geschah mit der medial massiv kommentierten Rückkehr der geliebten Stradivari Zimmermanns) kann im erlesenen Wuppertaler Konzerthaus nur großartig werden.
Sakrales Ambiente vermittelt ein weiterer Spielort vor den Toren Leverkusens. Der Altenberger Dom wird als ökumenische Begegnungsstätte ein Symbol für die allumfassende Kraft der Musik. Auch hier schickt das Festival mit L‘arte del mondo, seinem Residence-Orchester, einen eigenen Botschafter in die gotische Klosterkirche, die eine große Tradition für musikalische Fortbildung und reiches Konzertwesen pflegt. Junge Stimmen liefert der Kammerchor der Kölner Musikhochschule, um die schottische Mezzosopranistin Catriona Morison zu unterstützen. Das Programm setzt bei Monteverdis Madrigalkunst an und führt über Gesänge von Wagner und Mahler zu instrumentalen Meditationen modernen Kultklassiker Pärt und Górecki (14.6.).
In der Homebase Erholungshaus geben sich derweil die Künstler die Klinke in die Hand. An Leverkusens große Zeit als Landeszentrum für Tanz erinnern drei Produktionen, die den Geist des Festivals körperlich auf die Bühne bringen. Das Dortmund Ballett tanzt erstmals vor Publikum eine Arbeit der Choreographin Marijn Radermaker, deren Werk in pandemischer Zeit nur in einem Film festgehalten wurde – zur Musik von Arnold Schönberg. Seine „Verklärte Nacht“, ein spätromantisch aufgeladenes Streichsextett zum gleichnamigen Gedicht aus der Dehmel-Sammlung „Weib und Welt“, führte zum ersten Schönberg-Skandal im schönen Wien. Ergänzt wird der Abend durch Kammermusik von Erich Korngold, wie Schönberg ein weiterer in Wien wirkender Komponist, der sich im Dritten Reich eine goldene Zukunft nur in Amerika erobern konnte. Kulturchef Thomas Helfrich über diesen Abend (20.4.): „Ballett, Konzert, Rezitation. Ein genreübergreifendes Kulturerlebnis, das tief bewegt und lange nachhallen wird. Mit einem Gedanken als Leitmotiv: Wir sollten einander öfter verzeihen.“ Genau darum dreht sich nämlich die Dichtung Richard Dehmels, die jetzt auch szenisch wirkungsvoll ausgedeutet wird.
Farbenfroh begeistert die Welt der Kamea Dance Company, ein Hausballett der Bayer-Kultur über die Jahre. In der Choreographie „Wild awake“ (16.5.) begibt sich das Ensemble aus der israelischen Großstadt Be‘er Scheva auf die Suche nach dem Glück – nichts anderes bedeutet „Kamea“ im Hebräischen. An einem weiteren Tanzabend stellt der aus Leverkusen stammende Bühnenstar Philippe Kratz das Nuovo Balletto di Toscana vor (2.6.). Aufgeführt wird seine erste abendfüllende Choreographie nach einem Andersen-Märchen, Stoff auch für den berühmten Ballettfilm „The Red Shoes“. Kratz aktualisiert die Story und besonders den Tanz – seine Mischung zwischen zeitgenössischem und klassischem Tanz bezieht auch den Streetdance ein. Das fetzt.
Selbst ein Liedrezital sieht und klingt bei diesem Festival dann doch sehr anders. Benjamin Appl, letzter Meisterschüler der Sängerlegende Dietrich Fischer-Dieskau, lebt als Weltbürger in London und musiziert als Bariton mit den bekanntesten Kammermusikern an den bedeutendsten Konzerthäusern. Ihn reizt stets das musikalische Neuland, jetzt in Leverkusen ein Abend mit einem Begleiter, der neben Tasten auch Knöpfe einbringt. Es ist der Akkordeonweltmeister des Jahres 2010, Martynas Levickis, seit letztem Herbst auch Instrumentalist des Jahres 2023 mit Opus-Klassik-Preis. Und so entwickelt sich ein Liederabend (29.5.) zu einer Mischung aus Gesang mit Schifferklavier (von Mahler bis Gershwin) und rhapsodischen Ausflügen in die Virtuosenliteratur eines Astor Piazzolla bis zum Minimal-Sound eines Philip Glass.
Sehr nach dem Gusto des Festivals funktioniert der multimediale Festtag (7.5.) mit dem interdisziplinären Manchester Collective. Vier Avantgardist(inn)en haben druckfrische Werke geschaffen, die auf die Bildende Kunst des Malers Mark Rothko reagieren. Der „Erfinder“ der großformatigen monochromen Farbflächen kommentierte sein Werk selbst sehr konzentriert in einem zentralen wie nebulösen Satz: „Bilder müssen geheimnisvoll sein.“ Das lässt an diesem Abend ein breites Spektrum an Reaktionen zu, die sich auf technische Freiheiten wie durch den Raum schwebende 3D-Visuals stützen – Kunst in futuristischer Lesart. Ein Altmeister der Wilden kommt auch noch zum Zuge: Morton Feldmans kontemplative Komposition „Rothkos Chapel“ setzte kurz nach dem Freitod des Künstlers ein klingendes Denkmal. Die Kapelle existiert auch heute. Sie steht in Houston im Grünen.
stARTfestival | 13.4.-23.6. | div. Orte | www.kultur.bayer.de/de/startfestival
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