Die Bilder der Realität sollten uns eigentlich tiefer berühren, als es jedes künstlerische Bild vermag. Aber wir wissen, dass dem nicht so ist. „Wir stumpfen ab vor den Bildern des Fernsehens“, konstatiert Thomas Thorausch, der stellvertretende Leiter des Deutschen Tanzarchivs in Köln. „Ich kenne kein Tanzstück – auch nicht unter den internationalen Produktionen – das sich so intensiv mit dem Leid und dem Elend auseinandersetzt, das der Krieg über den einzelnen Menschen bringt, wie „Der grüne Tisch“, erklärt er. Martin Schläpfer zeigt dieses vielleicht bedeutendste deutsche Tanzstück des 20. Jahrhunderts in diesem Frühjahr in Düsseldorf und Duisburg. Mit dem Ensemble des Ballett am Rhein bereitet sich der Schweizer schon seit fast zwei Jahren auf dieses Projekt vor, das nun präzise in unsere aktuelle politische Situation passt.
Kunst verhindert keine Kriege, aber sie macht uns sensibel für das Schicksal der anderen und hilft uns die Strukturen zu durchschauen, mit denen große Politik das Leben der Menschen beeinflusst. Kurt Jooss präsentierte sein expressionistisches Ballett 1932 in Paris. Eine differenzierte Parabel auf das gewissenlose Abschlachten des Ersten Weltkriegs, als man am grünen Tisch eine ganze Generation in den Tod schickte. Jooss verließ Deutschland, weil er der Forderung der Nazis, auf seine jüdischen Mitarbeiter zu verzichten, nicht nachkommen wollte. „Von den vielen Stücken des Deutschen Ausdruckstanzes, ist „Der grüne Tisch“ das einzige kontinuierlich aufgeführte, und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Es hat die Emigration und die 50er Jahre überlebt, als man nur noch das „schöne“ Ballett sehen wollte“, erklärt Thorausch, der den Nachlass von Kurt Jooss betreut. Er berichtet von den 15 Kisten mit Texten, die das weltweite Echo dieser Choreografie dokumentieren, und er erinnert sich, dass noch vor wenigen Wochen Programmhefte des „grünen Tischs“ aus Warschau angefragt wurden.
Tatsächlich hat Jooss von überall Anregungen für sein Stück, zu dem Fritz A. Cohen die Musik schrieb, aufgesogen. So enthält „Der grüne Tisch“ auch das Panorama seiner Epoche, in das Texte von Carl von Ossietzkys Weltbühne und Bildideen von Alfred Kubin und Oskar Schlemmer eingegangen sind. Anhand eines Szenenfotos konnte Thorausch erkennen, dass sich Jooss von einem jüdischen Künstlertheater inspirieren ließ, in dessen Inszenierung der Tisch, um den sich das mörderische Geschehen entwickelt, auf gleiche Weise eingesetzt wurde. Ein Kriegerdenkmal, an dem Jooss täglich auf seinem Weg zur Probe in Essens Folkwangschule vorbeiging, zeigt einen alten Soldaten, der eine Fahne hochhält, während ein junger Soldat zu seinen Füßen stirbt. Bei Jooss findet sich die gleiche Szene. Auch Bilder von Flüchtlingen, die man damals Vertriebene nannte, sind in die Partitur eingegangen. Er schuf mit solchen aufmerksam registrierten Gesten ein Bewusstsein für historische Momente, die sich in den Körper eingeschrieben haben. Martin Schläpfer recherchierte in Köln. Er ist auf besondere Weise mit dem Werk von Kurt Jooss verbunden, sprach er doch auf der Trauerfeier der Jooss-Tochter Anna Markard in Amsterdam über das Leben der berühmten Choreografin. Dem Schweizer ist es ein Anliegen, die Spuren von Leid und Verfolgung als Dokument einer Geschichte des Körpers sichtbar zu machen.
Ballett am Rhein: b.27 „Der grüne Tisch“ u.a. | 18.(P), 26.3., 1., 3., 14., 22., 29.4. 19.30 Uhr, 20.3. 18.30 Uhr | Opernhaus Düsseldorf | 0211 892 52 11
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