Fand in der altehrwürdigen Westfalenhalle eine Hochzeitsmesse statt? Eher nicht. Dafür waren die Gekommenen etwas zu jung. Tausende von Mädchen in Cocktailkleidern und Jungs in Anzügen bevölkerten den Parkplatz an der B1 in Dortmund. Sie kicherten und schrien. Gruppen stellten sich zusammen zum Foto-Shooting. Später kreisten Wodka-Flaschen. Gleich mehrere Gymnasien aus der Region feierten als Mammutveranstaltung ihren Abiball in der Halle, in der sonst Schlager- und Rockkonzerte stattfinden. Soviel Abitur war noch nie wie in diesem Sommer. Und so viel Abitur wird wohl auch nie mehr sein. 2005 schaffte die damalige schwarz-gelbe Landesregierung die 13. Klasse an Gymnasien ab. Man wollte sich den europäischen Verhältnissen bildungspolitisch anpassen, um die Freizügigkeit jungen Menschen innerhalb der EU zu erleichtern. Das aber hat nun zur Folge, dass in diesem Jahr gleich zwei Abiturjahrgänge auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und zu den Hochschulen drängen.
Im Wissenschaftsministerium in Düsseldorf ist man optimistisch, dass diese spezielle Situation an den Universitäten gemeistert wird. Land und Bund haben in den letzten Jahren investiert, um die Hochschulen auf den Ansturm von Bewerbern vorzubereiten. Neue Professuren wurden eingerichtet. Die Zahl der Seminare und Vorlesungen steigt ab dem kommenden Wintersemester signifikant. An vielen Hochschulstandorten wurden Hörsaalgebäude, Mensen und Bibliotheken geschaffen oder bestehende erweitert. Die Ruhr-Universität in Bochum mietete sogar einige Objekte in der Innenstadt an und wurde so ihrem ehernen Gebot, eine Campus-Uni sein zu wollen, untreu. Matthias Brüggemann vom ASTA der Ruhr-Universität ist insgesamt zuversichtlich: „Unsere Universität hat viel getan, um auf den doppelten Abiturjahrgang vorbereitet zu sein. Ob die Maßnahmen ausreichen, wird die Zeit zeigen müssen – wir sind optimistisch-gespannt.“ Aber nicht nur Land, Bund und die Universitäten sind gefordert, um dem Ansturm an Erstsemestern zu begegnen. Die Infrastruktur der Universitätsstädte, so zeigt sich in diesen Tagen, ist der Situation oft nicht gewachsen. In Münster, Düsseldorf und Aachen ist es fast unmöglich, günstige Mietwohnungen zu finden. Leere Kasernen sollen umgebaut werden. Manche Unis appellieren an die Bevölkerung, junge Studierende in ihre Familien aufzunehmen. Hier sind die Revierstädte klar im Vorteil. Zum einen gibt es im Ruhrgebiet genug Leerstand und somit ausreichend bezahlbaren Wohnraum. Zum anderen wohnen viele Studierende hier noch bei ihren Eltern oder pendeln von umliegenden Städten zu ihren Unis. Wer wohnt schon in Tübingen oder Heidelberg und bewirbt sich an der Universität Duisburg-Essen? Mit Verkehrsproblemen allerdings wird man sich auch hier herumschlagen müssen. Das Autobahnnetz ist schon jetzt chronisch überlastet, in den S-Bahnen findet man zu den Stoßzeiten kaum einen Stehplatz. Besonders die Linien, die direkt zu den Unis führen, sind betroffen. Alle zur Verfügung stehenden Wagen sind in Bochum morgens um acht Uhr bereits im Einsatz. So hat sich die Ruhr-Uni dazu durchgerungen, die Seminare und Vorlesungen zu verschiedenen Uhrzeiten beginnen zu lassen. Diese Staffelung soll helfen, die Situation zu entspannen.
Trotz der Bemühungen, möglichst viele Studienplätze zu schaffen, werden etliche Abiturienten in diesem Herbst aber leer ausgehen. Andere konnten mit ihren 17 oder 18 Lebensjahren überhaupt noch keine verbindliche Lebensperspektive entwickeln, wollen sich erst einmal orientieren. Früher gelang dies zumindest den jungen Männern häufig in der Zeit des Wehr- oder Zivildienstes. Diese Dienste wurden aber vor drei Jahren abgeschafft. Männer wie Frauen können sich inzwischen zum Bundesfreiwilligendienst melden, der die schon länger bestehenden Angebote „Freiwilliges soziales Jahr“ und „freiwilliges ökologisches Jahr“ ergänzt. Junge Menschen können sich natürlich auch bei entsprechender finanzieller Ausstattung im Ausland orientieren. Nicht nur das Auslandsstudium, auch Praktika, Arbeitsaufenthalte und Au pair bieten die Möglichkeit, im wahrsten Sinn des Wortes den Horizont zu erweitern. Noch mehr Abiturienten als in den vergangenen Jahren nutzen die Wartezeit auf einen Studienplatz, indem sie eine Lehre beginnen. Damit aber nehmen sie den jungen Menschen mit Mittlerer Reife und Hauptschulabschluss die Lehrstellen weg. Diese sind also die Hauptleidtragenden des Turbo-Abiturs.
Die Universitäten hingegen freuen sich über die Zuwendung von Land und Bund, können sie so endlich nach vielen Jahren mal wieder erkennbar expandieren. Wenn in etwa sechs Jahren der doppelte Jahrgang die Hochschulen durchlaufen hat, wird das Angebot nicht automatisch wieder auf das heutige Niveau zurückgefahren. Der Trend zur Hochschulausbildung wird sich unter jungen Menschen weiter durchsetzen. Deshalb ist zu hoffen, dass aus der Verkürzung der Schulzeit letztlich ein mehr an Bildung erwächst. Wenn viele junge Menschen möglichst lange und effektiv lernen, kann dies für ein Land, dessen einziger Rohstoff qualifizierte Arbeitskräfte sind, nur nützlich sein.
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