trailer: Herr Zimmerer, heutzutage hält man sich in Deutschland die gelungene Aufarbeitung der NS-Diktatur zugute, die Nachkriegszeit war aber von Verdrängung geprägt. Wie sprach man in den 1950ern über den Holocaust?
Es gibt eine Allensbach Umfrage von 1951, in der auf die Frage, wann im 20. Jahrhundert es Deutschland am besten gegangen wäre, 43 Prozent das Dritte Reich angeben und nur 2 Prozent die Zeit seit 1945. Nur mal so zum Nachdenken! Zunächst war es so, dass man das Dritte Reich praktisch verschwiegen hat. Das ist ja der Klassiker, die Soldaten, die zurückkehren und nie drüber sprechen, was sie erlebt haben, weil sie traumatisiert waren. Aber interessant ist, worüber hat man eigentlich gesprochen? Und das Narrativ direkt nach Kriegsende war eines von den Deutschen als Opfer – als Opfer einer kleinen Gruppe von Nationalsozialisten, als Opfer des Bombenkrieges, als Opfer der Vertreibungen. Man war vom Regime kontrolliert und überwacht worden.
„Es gab eine Diskussion über das Dritte Reich, aber es war eine völlig andere“
Daraus hat man sich die Lebenslüge gestrickt, dass man keine Alternative hatte, dass man nichts hatte tun können, bestenfalls ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen sei und oft schlimmeres verhindert habe. Das heißt, es gab eine Diskussion über das Dritte Reich, aber es war eine völlig andere. Im Grunde wurde erst in den 60er Jahren mit den Ausschwitz-Prozessen die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was wir heute als zentral für die Geschichte des dritten Dritten Reiches ansehen, nämlich den Holocaust. Man muss eben auch wissen, dass diese Auseinandersetzung mit den Verbrechen des dritten Reiches nicht freiwillig erfolgt ist, sondern lange Zeit von vielen Deutschen wirklich als „Re-Education“, als erzwungene Umerziehung, die Nürnberger Prozesse als „Siegerjustiz“ diffamiert wurden. Das hat auch damit zu tun, dass eben sehr viele von denen, die wir als Nationalsozialisten, als Verbrecher ansehen, ihre bürgerliche Karriere nach 1945 fortsetzen konnten – sei es als Hochschullehrer, Lehrer, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, oder in den Behörden und Ministerien. Das waren alles Belastete, weil sie in diesem verbrecherischen Regime aktiv mitgewirkt haben. Und die haben eben auch die Aufarbeitung behindert.
„Es war ein gradueller Prozess“
Wie konnten diese belasteten Akteure ihren Einfluss so lange aufrecht erhalten?
Zum einen war die Bereitschaft, entsprechende Gesetze zu erlassen, die dies verhindert hätten, nicht so groß. Zweitens gab es Netzwerke. Es gab schon im Entnazifizierungsverfahren die sogenannten Persilscheine, mit denen man sich attestieren lassen konnte, kein Nazi gewesen zu sein. Es ist bekannt dass sich hohe Funktionäre gegenseitig attestiert haben, keine Verbrechen begangen zu haben. Man muss sich die frühe bundesdeutsche Gesellschaft so vorstellen, dass im Grunde alle Schuld und Verantwortung auf sich geladen hatten, sei es aus Verdrängung, Schuldabwehr oder auch Scham, geschwiegen zu haben.
Wie begann die echte Aufarbeitung?
Ich würde sagen, die Aufarbeitung begann im Grunde auch schon von Anfang an, sie wurde immer wieder erweitert, wurde sichtbarer, akzeptierter. Es ist immer die Frage, nach wem man gerade fragte. Was als nationalsozialistisches Verbrechen definiert wurde, was als „normale“ Verbrechensbekämpfung. Ich glaube etwa, dass die Nürnberger Prozesse, etwa gegen die Ärzte, bereits ein Umdenken einleiteten. Aber es war ein gradueller Prozess. Wichtig war, dass Menschen etwa in der Justiz oder den Medien in einflussreiche Positionen kamen, die selbst nicht mehr belastet waren, die nachgefragt haben und die als Journalist*innen entsprechende Sendungen machten. In den 70er Jahren wurde die Serie „Holocaust“ in der Bundesrepublik ausgestrahlt, die das Thema in die Wohnzimmer der Leute gebracht hat. Und dadurch eine Bereitschaft erzeugt hat, sich der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, dem Holocaust, zu widmen.
In den 60er und 70er Jahren begann dann zudem in der Zivilgesellschaft eine Graswurzelbewegung, die nachfragte, in Geschichtswerkstätten und Ähnlichem. Es gab immer wieder Momente, in denen ein bestimmtes Verbrechen in den Mittelpunkt geriet und eine Gruppe von Täterinnen und Tätern als solche erkannt und benannt wurde. Bei den Auschwitzprozessen war das der Holocaust in den Konzentrationslagern. In den 90er Jahren aber gab es die Wehrmachtsausstellungen, die erste und die zweite, die wieder große Debatten auslösten, weil man bis dahin der Auffassung gewesen war: Der Holocaust ist geschehen, aber die Wehrmacht war „sauber“.
„Opa war kein Nazi, hieß es“
Die Einbeziehung der Wehrmacht hat die Zahl der unmittelbaren Täter natürlich um Millionen gesteigert. Vorher gab es immer einen Diskurs der Beschränkung, wer denn eigentlich Täter gewesen war. Das waren erst die Nazis, dann waren es die Wachmannschaften und die ideologischen Täter in den Konzentrationslagern – aber Opa nicht, Opa war kein Nazi, hieß es. Und plötzlich fragte man, was ist denn mit diesen Millionen von Soldaten in diesem Vernichtungskrieg. Es ist ein wenig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, dass eben mehr als die Hälfte der Juden und Jüdinnen nicht in den Vernichtungslagern umgekommen ist, sondern von Wehrmachtseinheiten, und SS-Einheiten blutig erschlagen und erschossen wurde. Dieses Bild der Gaskammer hat ja aus der Perspektive der Täter auch etwas Schuldabwehrendes, etwas Distanzierendes. Aber mit diesen Millionen von Tätern, mit dem Hinweis auf diese 100.000-fachen Erschießungen hat sich natürlich auch die Wahrscheinlichkeit gesteigert, dass der eigene Vater, Mann, Opa, Bruder eben auch Täter war. Erst im Juni dieses Jahres hat Bundespräsident Steinmeier eine Rede über den Überfall auf die Sowjetunion gehalten und zum ersten Mal in einer Rede eines Staatspräsidenten diese 27 Millionen auch pauschal als Opfer des NS-Regimes gewürdigt. Also hat wieder eine Bedeutungserweiterung stattgefunden.
„Eine große symbolische Geste“
Wie schlug sich dieser Prozess politisch nieder?
Wichtig ist sicher die Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 im Bundestag, in der er sagte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, und nicht der Niederlage. Aber es gab viele Debatten, in denen mit der Vergangenheit gerungen wurde. Etwa auch die zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, im Zuge der Wiedervereinigung – das sind alles Kapitel der Auseinandersetzung mit dieser NS-Vergangenheit und ihren Folgen.
Beate Klarsfelds Ohrfeige an Kurt Georg Kiesinger, Brandts Kniefall – welche Bedeutung haben solche symbolhafte Handlungen?
Das sind natürlich unterschiedliche Paar Schuhe – diese Ohrfeige ist ja etwas anderes, als wenn sich ein Bundeskanzler in Warschau auf die Knie fallen lässt. Noch dazu ein Kanzler, dem niemand als Person den Vorwurf machen konnte, die Nazis unterstützt zu haben, als jemand der eindeutig in der Oppostion war und sogar gegen die Deutschen gekämpft hat, was ihm ja sogar im Wahlkampf noch den Vorwurf eingebracht hat, dass er ein vaterlandsloser Geselle sei. Das war eine große symbolische Geste, die sehr viel dazu beigetragen hat, die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft zu ermöglichen. Natürlich spielen Bilder wie diese eine ganz entscheidende Rolle, aber es gibt dazu auch Gegenbilder – etwa 15 Jahre später der Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Friedhof in Bitburg, auf dem auch Soldaten der Waffen-SS lagen.
Immer wieder wird diagnostiziert, dass rechte Positionen schleichend „salonfähig“ werden. Wie passt das zum intensiven Aufarbeitungsprozess?
Auch das ist ja kein Prozess, der besonders neu ist. Es gab im Grunde immer Parteien, oder Versuche Parteien zu gründen, die ein politisches Spektrum rechts von CDU/CSU bedienten. Denken wir an die NPD in den 1960er oder die Republikaner in den 1990ern. Heute gibt es die AfD, die in dem Sinne erfolgreich ist, dass sie den Einzug in den Bundestag geschafft hat und aller Voraussicht nach wieder schaffen wird. Das ist auch erwartbar, denn es ist ja so, dass es gleichzeitig mit den Selbstfeiern einer geglückten Vergangenheitsbewältigung auch immer Umfragen gab, die im Grunde 15 bis 20 Prozent der Deutschen ein geschlossen rassistisches Weltbild attestieren. Das sind ja die zwei Dinge, die man nie zusammen denkt: Vergangenheitspolitik und gleichzeitig rassistische Angriffe. Auch rechtsradikale Terroranschläge ziehen sich im Grunde durch die Jahre der BRD: Die Wehrsportgruppe Hoffmann und das Oktoberfest-Attentat, die Anschläge von Mölln, Rostock-Lichtenhagen, die Morde des NSU, Hanau, Halle. Wir haben immer wieder diese Verbrechen, die nicht in einen Widerspruch zu diesem Selbstbild der absolut geglückten Aufarbeitung gesetzt werden.
„Es gab bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch, einen Rassestaat zu errichten“
Es gibt einen „neuen Historikerstreit“ über die Einzigartigkeit des Holocaust. Sie setzen ihn in eine Beziehung mit früheren Verbrechen im deutschen Kolonialismus. Können sie das erläutern?
Die Debatte über die Verbindung von Kolonialismus und dem Holocaust ist eine, die international zwischen Historikerinnen und Historikern seit vielleicht 15 Jahren geführt wird, sie ist also mitnichten neu. Der Ausgangspunkt liegt eigentlich schon in den 1940er Jahren, in denen etwa Hannah Arendt, aber auch Schwarze Intellektuelle wie W.E.B. DuBois, darauf hingewiesen haben, dass hier Verbindungslinien zwischen den Verbrechen existieren. Die Debatte, die zurzeit in Deutschland geführt wird, stützt sich auf meine Beobachtung als Historiker des deutschen Kolonialismus, dass es im Grunde einen Genozid vor dem Genozid gab – nämlich an den Nama und Herero, der jetzt auch weithin wissenschaftlich anerkannt als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts gilt. Es gab in Deutsch-Südwestafrika bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch, einen Rassenstaat zu errichten, und dann in den 30er Jahren erneut, dieses Mal in Deutschland selbst. Man muss nach diesen Verbindungslinien fragen, weil sie sich praktisch aufdrängen, und man muss fragen, welche militärischen, bürokratischen oder kulturellen Strukturen diese rassistisch-genozidale Politik hervorbringt. Wenn man den einen Fall kennt, hilft das besser zu verstehen, was in dem anderen eigentlich passiert ist.
„Ich merke, dass es Versuche einer positiven Neuschreibung der Geschichte des Kaiserreiches gibt“
Man bezeichnet den Vernichtungskrieg im Osten und den Holocaust oft als Zivilisationsbruch und ich habe mich immer gefragt, wie man erklären kann, dass sich Millionen ,normaler Deutscher’an diesen Verbrechen beteiligt haben und ob es Ideen gab, die ihnen dies erleichtert haben. Eine dieser Ideen war meiner Meinung nach das „Framing“ des Landes im Osten als Kolonialland, dazu sind einschlägige Zitate von Himmler, von Hitler, aber auch von einfachen Soldaten überliefert. Koloniale Landnahme, Raub und Verdrängung galten aber als ,normal’, als etwas, was alle Europäer*innen machten. Vielleicht, so meine Annahme, begriffen viele gar nicht, dass sie gerade einen Zivilisationsbruch begingen, oder konnten sich zumindest darüber hinwegtäuschen? Das war meine Ausgangsfrage, die seit Jahren sehr breit diskutiert wird und die ich auch schon mehrfach in Israel vorstellen konnte. Dass dies gerade jetzt in den Weg in eine breitere Öffentlichkeit gefunden hat, wirft eine weitere Frage auf, nämlich nach dem Ort des Dritten Reiches in der deutschen Geschichte, und den Versuchen einer langsamen Dezentrierung. Ich merke zu meiner Beunruhigung, dass es Versuche einer positiven Neuschreibung der Geschichte des Kaiserreiches und des 19. Jahrhunderts gibt, und auch die Verbrechen des Holocaust aus der deutschen Geschichte abzukoppeln. Dagegen wende ich ein, dass man genauer hingucken muss, denn selbst wenn man den Holocaust auf eine kleine Gruppe sehr ideologischer Antisemiten zurückführte, bleibt immer noch die Frage nach der deutschen Gesellschaft, dem deutschen Militär und vor allem auch dem deutschen Beamtenapparat, der 30 Jahre vorher schon einmal einen Rassenstaat und genozidale Politik entwickelt hat. Das weist darauf hin, dass die Verbindungslinien in die deutsche Geschichte sehr viel stärker sind und wir den Holocaust und die Verbrechen des Dritten Reiches nicht aus der Geschichte ausklammern dürfen.
„Es gibt eine Verzerrung, die Kontinuität mit Kausalität verwechselt“
Ihre These hat teils heftige Gegenwehr ausgelöst. Warum?
Na ja, da müssten Sie besser meine Gegenredner fragen. Zum einen herrscht eben auch unter Historiker:innen sehr wenig Kenntnis über den Kolonialismus. Es werden Bezüge abgestritten, ohne dass man über den historischen Sachverstand verfügt, Kolonialereignisse zu erkennen. Man kann aber auch nur zum Urteil kommen, dass diese zwei Ereignisse keine Ähnlichkeit haben, wenn man auch den Kolonialismus sehr gut kennt – aber die Leute, die das in der Debatte zurückweisen, sind meist keine ausgewiesenen Kolonialismus-Experten. Zum anderen gibt es eine Verzerrung, die Kontinuität und strukturelle Ähnlichkeit mit Kausalität verwechselt. Sie sagen: Ja, aber, wenn der Kolonialismus als Kausalursache zum Holocaust führt, dann hätte das in England oder in Frankreich passieren müssen. Das ist natürlich unsinnig, weil man natürlich nicht von Kausalität ausgehen kann. Die Frage ist ja nicht, „ist der Holocaust passiert, weil es den Herero-Genozid gegeben hat?“, sondern welche Strukturen, Ideologien und Mentalität ermöglichten beide Verbrechen.
„Nichts, was wir heute erleben, ist auch nur ansatzweise wie die Verbrechen des Nationalsozialismus“
Es sind natürlich sehr viele Gründe, die dazu geführt haben, dass die Nazis und Hitler an die Macht kamen – darunter der Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise, und dass sie dann so breite Unterstützung fanden. Aber dass dann koloniale Programme in die Tat umgesetzt wurden, etwa in Osteuropa, ist der Punkt, an dem meine Interpretation einsetzt. Es ist eine Rückbindung an die deutsche Geschichte, die mit der Verwechslung von Kausalität und Kontinuität diskreditiert werden soll. Und vor der Folie des Allgemeinen kann dann auch die Frage nach dem Singulären etwa des Holocaust gestellt werden, etwa die Bedeutung und spezifische Aufladung des Antisemitismus, und daraus abgeleitet der Versuch einer globalen „Endlösung“.
Wie schätzen Sie dem verbreiteten Gebrauch von Hitler- und Nazi-Vergleichen in der öffentlichen Auseinandersetzung ein?
Ich finde schon, dass sich da die Frage der Relativierung stellt, wenn man zu leichtfertig sagt, „dies und jenes ist ja wie da und da“. Nichts, was wir heute in Deutschland erleben, ist auch nur ansatzweise so wie die Verbrechen des Nationalsozialismus, da sollte man vorsichtig sein - auch andersherum, wenn etwa die Bombardierung des Kosovo mit „nie wieder Auschwitz“ legitimiert wird.
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