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Denise Klein und Martina Böhmer (r.) helfen „vergessenen Opfern“
Foto: Thomas Dahl

Ein Tabu zu viel

24. Februar 2022

Paula e.V. Köln berät Frauen ab 60 Jahren, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind – Teil 2: Lokale Initiativen

Bedroht, geschlagen, vergewaltigt, vergessen. Laut Erhebungen des Bundeskriminalamts wurden im Jahr 2020 146.655 Menschen Opfer von Gewalttaten in Beziehungen – eine Steigerung gegenüber 2019 um nahezu fünf Prozent. 80,5 Prozent davon waren weiblich. 359 Frauen verloren dabei durch Gewalt in der Partnerschaft ihr Leben. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beziffert in einem Bericht aus dem Herbst 2019 die Häufigkeit von körperlichen Verletzungen an Frauen durch ihre Partner auf mehr als einmal pro Stunde. Doch sexualisierte Gewalt gegen ältere Frauen verschwindet in den Statistiken oftmals, kommt es doch häufig erst gar nicht zur Anzeige der Verbrechen. Um auch diesen Opfern eine Stimme zu geben, gründete die ehemalige Pflegerin Martina Böhmer vor zwölf Jahren den gemeinnützigen Verein Paula e.V. mit Sitz in der Kölner Südstadt – die bundesweit einzige spezifische Beratungsstelle für betroffene Seniorinnen, deren Angehörige oder Pflegepersonal.

Unsichtbar im Alter

Das Klischee, sexuelle Übergriffe richteten sich nur gegen junge Menschen, kann Martina Böhmer ad absurdum führen. „Ich hatte und habe leider regelmäßig Personen hier, die diese Taten als 70-, 80- oder 90-Jährige erleben und dringendst Hilfe – beispielsweise in Form einer Traumatherapie – benötigen. Dabei ist es für sie schon eine große Überwindung, sich überhaupt mitzuteilen. Es braucht eine Lobby für diese Menschen, die zu vergessenen Opfern wurden“, so die Leiterin der Anlaufstelle. Mit Diplom-Pädagogin Denise Klein verfügt der Verein über eine weitere Fachkraft, die in den Räumlichkeiten der Stätte sowie an den Lebensorten der Hilfesuchenden Traumaberatungen anbietet.

Unterstützt wird das Kernteam neben der Wohlfahrtspflege NRW sowie der Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica Mondiale durch mehrere ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, die etwa im Bereich Öffentlichkeitsarbeit ihre Kompetenzen einfließen lassen. Auch letztere Tätigkeiten seien immens wichtig: „Sexualisierte Gewalt an älteren Frauen ist total tabuisiert. Es geht darum, das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich war extrem erschrocken darüber, wie wenig die Frauen als erwachsene, ansprechbare Personen wahrgenommen werden, wenn sie beispielsweise im Pflegeheim Gewalt erleben. Das Umfeld spricht dann vielleicht darüber, aber niemand kommt auf die Idee, mit der Frau selbst zu reden“, erzählt Denise Klein, die lange Zeit im Bereich der Flüchtlingshilfe arbeitete. „Es war sehr auffällig für mich, dass es ein Gewaltschutzkonzept wie in den Unterkünften für die Pflegeeinrichtungen gar nicht gibt“, bemängelt die Vereinsmitarbeiterin.

Systemisches Versagen

Martina Böhmer bringt die Problematik auf den Punkt: „Das hat viel mit Vorurteilen zu tun. Alte sind demnach tüddelig. Denen muss man über die Straße helfen. Wenn eine ältere Frau etwas von sich gibt, das vielleicht unglaubwürdig klingt, ist direkt der Bezug zum Themenkomplex Demenz da. Alten wird vor allem zugeschrieben, dass sie pflegebedürftig sind. Problematisch sind auch die verschiedenen Begrifflichkeiten bei sexualisierter Gewalt: Bis zu einem gewissen Alter heißt es ‚Gewalt gegen Frauen‘ und dann ‚Gewalt in der Pflege‘. Schließlich ist es nicht mehr Gewalt, sondern die Überforderung von den Angehörigen oder des Personals.“ Böhmer berichtet über drangsalierte Mütter, deren Täter Söhne oder geschiedene Ehemänner waren, die plötzlich in der Pflegeeinrichtung auftauchten. Dabei sei es neben der physischen auch zur psychischen Gewalt gekommen. Oftmals würden die Hausbetreiber Missbrauchsvorwürfe bestreiten, weil man sich um den Ruf sorge. Mitunter fehle es jedoch bereits an einer umfassenden Ausbildung des Personals, das nicht weiß, wie es in solchen Situationen reagieren soll. Als Beispiel nennt sie einen Ehemann, der seine Frau besucht. Später finden die Mitarbeiter*innen im Zimmer eine verstörte Frau vor, die blaue Flecke am Körper aufweist. „Dann wird es problematisch. Natürlich würde dem Vorwurf einer Vergewaltigung nachgegangen, aber wenn ein Übergriff nicht zur Anzeige gebracht wird, geschieht vermutlich auch nichts. Dass Pfleger*innen auf uns zukommen und über Vermutungen eines Delikts berichten, kommt so gut wie nie vor“, erklärt die Vereinsgründerin.

Mut zur Enttabuisierung

Das Themenspektrum von Paula e.V. ist in seiner Vielfalt bedrückend. Neben der Unterstützung in aktuellen Fällen berät der Verein bei belastenden Kindheitserinnerungen, etwa Kriegs- oder Nachkriegstraumata der Besucherinnen. Auch in Bezug auf problematische Wohnverhältnisse oder Corona-bedingte Einsamkeit haben die Ansprechpartnerinnen offene Ohren. Der Bedarf nach solchen Gesprächen sei hoch, so Böhmer. Mitarbeiterin Denise Klein fordert deshalb in den Einrichtungen klare Konzepte in Bezug auf Übergriffe. Zudem müssten unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden, um schnelle Maßnahmen ergreifen zu können. Derzeit gäbe es keinen institutionalisierten Weg, der diesbezüglich begehbar sei, kritisiert die Pädagogin.

Im Zuge der Prävention setzt sich der Verein für eine Reflexion mit dem Sujet „Gewaltvolle Pflegehandlungen“ ein. Das unwürdige, schnelle Legen eines Katheters während des Frühstücks in Anwesenheit anderer sei dafür ein trauriges Beispiel. „Wir können versuchen, die Frau zu stärken und mit der Einrichtungsleitung sprechen. Aber die Situation direkt ändern, das können wir nicht“, berichtet Böhmer, die Ansätze für Veränderungen in ihrem Buch „Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen“ (Mabuse-Verlag) aufführt. Es fehle am Mut zur Enttabuisierung und an Möglichkeiten zur Nachsorge für traumatisierte Opfer. Um die Beratungsstelle zu erhalten, sei der Verein jedoch selbst auf Hilfe angewiesen: „Es braucht eine stabile Finanzierung, denn wir müssen immer schauen, wie wir die Miete abdecken. Ein großer Traum wäre eine Stiftung, die unsere Beratungsangebote langfristig absichern würde“, sagt Martina Böhmer.


FRAU ALLEIN - Aktiv im Thema

#EndEndosilence | Die Petition fordert eine nationale Strategie gegen Endometriose, eine chronische und schmerzhafte Unterleibserkrankung bei Frauen.
www.betterbirthcontrol.org | Die Kampagne Better Birth Control wirbt für gerechtere Verhütungsmethoden und mehr Verhütungsaufklärung.
www.shehealth.org | Das Netz She Health möchte die Repräsentanz und Sichtbarkeit von Frauen in der digitalen Medizin erhöhen und gendergerechte Algorithmen entwickeln.

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Thomas Dahl

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