Essen, 21.1. – Nach einer Woche Kinoreise durch den Süden Deutschlands freute sich die Nachwuchsregisseurin Pia Strietmann, mit ihrem Erstling „Tage, die bleiben“ in NRW angekommen zu sein. Und man kann es nicht anders sagen: Die Zuschauer im charmanten Rüttenscheider Glückauf-Kino lagen ihr zu Füßen. Selbst jene, die später Kritisches anzumerken hatten, ließen sich von der mehr als wohlwollenden Stimmung mitreißen. Die herrschte trotz des schweren Themas und hatte ohne Zweifel mit dem hinreißenden Auftritt der Filmemacherin zu tun. Interessiert an den Reaktionen des Publikums, gesprächsfreudig und sehr persönlich berichtete sie von ihrer Geschichte um eine Familie, die den plötzlichen Tod der Mutter zu verkraften hat.
So gewaltig der tödliche Zusammenstoß auf der Leinwand daher kommt, so wenig entspricht er der Reaktion der Hinterbliebenen. Dem Autounfall, dem Frau Dewenter ausgerechnet nach der erfolgreichen Präsentation ihres Debütromans zum Opfer fällt, folgt wider Erwarten kein emotionaler Totalschaden ihrer Familie. Keine Tränen, keine Zusammenbrüche, keine Umarmungen – die Zeichen der Trauer lassen lange auf sich warten. Auf den ersten Schock über die Todesnachricht folgt betretenes Schweigen, man ist sich fremd, beäugt sich; und weiß nicht recht wohin. Vater Christian flüchtet kopflos in ein amouröses Abenteuer mit der jüngeren Geliebten, anstatt sich um seine Kinder zu kümmern. Sohn Lars, erfolgloser Schauspieler in Berlin, muss sich um die Formalitäten der Beerdigung kümmern und kämpft mit der Wut auf seinen Vaters. Die pubertierende Elaine hält sich tapfer, geht zur Schule, lässt sich sogar tätowieren, und doch ahnt man: Sie bräuchte dringend eine tröstende Schulter.
Was ist los mit dieser Familie? Warum trauert sie nicht? Was passiert hier in den fragilen Tagen, die noch bleiben zwischen Tod und endgültigem Abschied? Und ist es möglich, dass der gemeinsame Verlust doch noch neue Bande entstehen lässt? Solche und ähnliche Fragen waren es, die die Zuschauer angeregt mit der Filmemacherin diskutierten.
Dass sich Pia Strietmann in ihrem ersten großen Spielfilm ausgerechnet dem Thema Trauer angenommen hat, hatte sowohl filmische als auch persönliche Gründe. In ihrem Abschlussprojekt für die Hochschule wollte sie etwas erzählen, dass mit ihr selbst zu tun hatte. Als sie Mitte 20 war, verlor sie ihren Vater – ein einschneidendes Erlebnis, verbunden mit Erfahrungen, die in ihrem Film „Tage, die bleiben“ eine zentrale Rolle spielen. Von einer unwirklichen, nicht fassbaren Zeit wollte sie erzählen. Vom betäubten Zustand, in den einen der Tod eines nahen Menschen reißen kann. Die Erkenntnis, dass wir so vieles wissen, der Tod uns aber nach wie vor in den Grundfesten zu erschüttern vermag, war für die Entwicklung des Stoffes entscheidend.
Filmisch interessierte die junge Regisseurin dann die Tatsache, dass wenige Geschichten über das Trauern existieren, die zugleich auch unterhalten. Hier wollte Strietmann ansetzen und die richtige Balance zwischen Tragik und Humor finden. Keinen Problemfilm machen, aber auch keinen Klamauk. Vielmehr eine berührende Familiengeschichte erzählen, in der man die Figuren bei der schwierigen, manchmal absurd anmutenden Trauerarbeit begleiten darf.
Dem Publikum in Essen hat es gut gefallen, dass Pia Strietmann dabei auf Helden verzichtet und großartige Schauspieler verpflichten konnte. Ihre Protagonisten machen Fehler, weil sie sich in einer Ausnahmesituation befinden und nicht Herr ihrer Gefühle sind. Die Trauer zuzulassen, das lernen Elaine, Lars und Christian Dewenter erst spät – aber schließlich doch gemeinsam.
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