Essen, 23.10. – Die Kommune im Friedrichshof war ein gesellschaftliches Experiment: Gelebt wurde freie Sexualität, Gemeinschaftseigentum und eine totale Absage an die kleinbürgerliche Familie. In dieses Setting wurde Filmemacher Paul-Julien Robert 1979 geboren. In seinem Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ ergründet er den abgeschlossenen Mikrokosmos der Kommune und die Auswirkungen dieses radikalen Lebensentwurfs auf die ehemaligen Bewohner bis heute. Der Film ist sehr persönlich aus seiner Sicht erzählt. Im Filmgespräch im Essener Filmstudio wurde mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert, wie es zu dem Scheitern des Projekts kam und wie sich die despotische Machtausübung des charismatischen Künstlers Otto Mühl auf die rund 500 Mitglieder im Laufe der Jahre entwickelte. Das Alltagsleben auf dem Friedrichshof wurde exzessiv dokumentiert. Archiv-Aufnahmen aus tausenden Stunden von Video-Material aus der Zeit der Kommune bilden den filmischen Hintergrund, zu dem Robert 20 Jahre später die Protagonisten befragt und Stellung beziehen lässt.
Paul-Julien Robert war es wichtig, zu Beginn seines Films den Zeitgeist einzufangen aus dem heraus sich die Kommune bildete, und er bestätigt im Gespräch sein großes Verständnis dafür, warum seine Mutter und andere dort mitgemacht haben. Er zitiert aus Manifesten von Otto Mühl, um das Konzept und den Traum von einem freien Leben im Kollektiv genau zu verstehen. Im Laufe der Jahre entwickelt sich das Projekt allerdings zu einem Albtraum. Mühl inszeniert die Kommune als allumfassendes Kunstwerk, in dem Menschen nach Roberts Ansicht zu Kunstobjekten degradiert wurden. Zu guter Letzt wird Otto Mühl wegen sexueller Nötigung Minderjähriger verhaftet und das Projekt Friedrichshof findet 1991 ein Ende; die ehemaligen Mitglieder verstreuen sich auf der ganzen Welt. Kaum zu ertragen sind Filmaufnahmen, in denen Mühl wie ein durchgeknallter Tyrann ein Kind zum Singen zwingt. Hunderte Teilnehmer johlen bei dieser Gruppensitzung, die so oder ähnlich Alltag auf dem Friedrichshof war. Täglich hieß es „Antanzen zur Persönlichkeitsbeurteilung“, wie ein Freund Roberts erzählt. Mühl kommentierte und bewertete alles und jeden und erfand ein perfides Netz von Hierarchien und willkürlichen Bestrafungen. Angetreten unter dem Motto eines freien Lebens für alle, wird die Kommune zu einer Diktatur mit faschistoiden Zügen, in der jede Form von Willensäußerung sanktioniert wird. Der Filmemacher konfrontiert seine Mutter, die ihn zeitweise allein in der Gruppe zurückließ, mit solchen Aufnahmen. Er eruiert, was Familie für ihn bedeuten könnte und was Verantwortung eines jeden einzelnen heißt. „Der Film ist keine Therapie“, stellt Robert klar. Er konstatiert, dass der Mikrokosmos der Kommune brutale Mechanismen im zwischenmenschlichen Miteinander sichtbar gemacht habe, sich diese Prozesse aber auch in vielen anderen Lebenszusammenhängen finden ließen. Sein Mittel der Wahl ist genaues Hinschauen, „denn ich wollte auch für mich verstehen, wie das funktioniert.“
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