An einem Montag um 18 Uhr ist die Kulturkirche in Köln-Nippes bis auf den letzten Platz mit Menschen gefüllt, die einer Amerikanerin japanischer Abstammung lauschen wollen. Deren neues Buch ist noch gar nicht erschienen, sie hat überhaupt nur drei Bücher geschrieben, wovon eines vor 16 Jahren ins Deutsche übersetzt wurde. Müssen die alle nicht arbeiten, fragt man sich unwillkürlich oder wie haben sie es angestellt, gleich von ihrer Arbeitsstelle zur Lesung zu gelangen?
Fragen, auf die nur die lit.Cologne Antworten zu geben vermag. Hat sich der Festivalsog einmal gebildet, dann trägt die Begeisterung für die Literatur einfach jeden auf dieser Welle mit. Niemand wird enttäuscht an diesem Abend. Suzanne von Borsody liest aus Ruth Ozekis phänomenalem Roman „Geschichte für einen Augenblick“ mit einer weichen, klaren Stimme. Sie geht geschmeidig in jede Erzählpassage, und wenn im Text das Verhalten eines Katers beschrieben wird, dann folgen ihre Stimme, ihre Hände und der Oberkörper den Bewegungen des Katzentiers.
Ein anderer Erfolgsgarant ist an diesem frühen Abend Bernhard Robben, Übersetzer und Moderator, der Publikum und Autorin immer wieder zum Lachen bringt, weil er mit klugen Fragen charmant zu provozieren versteht. Den Roman will man unbedingt lesen, nachdem die freundliche Amerikanerin, die in ihrem Leben schon als Bardame, Logopädin, Bühnenbildnerin, Filmemacherin, Zen-Priesterin und als Entenzüchterin gearbeitet hat, einmal ins Erzählen gekommen ist. Die Geschichte des Buches berichtet von einer Schriftstellerin, die an der kanadischen Pazifikküste lebt und eines Tages ein Plastikpaket am Strand findet. Ihr Ehemann öffnet die Verpackung und es findet sich eine Hello-Kitty-Box, in der Briefe und das Tagebuch einer 16-jährigen Japanerin aus Tokio enthalten sind. Das Mädchen erzählt von seiner Familie, seinen Wünschen und Vorstellungen, der Schule, in der es schikaniert wird, und es spricht davon, dass es seine „letzten Tage auf Erden“ verbringt.
„Geschichte für einen Augenblick“ ist aber zugleich viel mehr, weil sowohl die Schriftstellerin als auch Ruth Ozeki selbst zentrale Stimmen des Romans sind. Das Mädchen stellt sich mit den Worten vor: „Hallo! Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein und ich bin Zeit“. Nao klingt wie das englische „now“ (jetzt), und Martin Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ ist nicht nur ein Thema des Romans, sondern Ruth Ozeki verweist auch darauf, dass es im Japanischen schon immer ein gemeinsames Schriftzeichen für Sein und Zeit gab. Trotzdem stellt der Roman keine verrätselte Version einer philosophischen Reflexion dar. Ozeki kann erzählen. Wenn sich ihre Figuren in einer Küche aufhalten, dann erwacht der Raum mit Gegenständen und Atmosphäre zum Leben. Ja, der Roman stellt sich als eine Art Wirbelwind dar, der unzählige Themen und Geschichten aufgreift, die in einem sinnlichen, zupackenden Gestus geschildert werden. Die Natur bildet nicht allein für die Handlung ein wichtiges Motiv. Ruth Ozeki hatte das Manuskript Anfang März 2011 bei ihrem Verlag abgeliefert. „Aber es gibt Katastrophen, die teilen die Zeit in ein Vorher und ein Nachher ein“, erklärt sie angesichts des Tsunami vom 11. März 2011. „In Japan kann kein Buch mehr erscheinen, in dem nicht der Tsunami verarbeitet ist“, fügt sie hinzu. Deshalb musste der Text neu geschrieben werden. Das Ergebnis ist ein Lesegenuss, weil hier die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln verhandelt wird. Und das vor dem Hintergrund der Lebenskrise der alternden Schriftstellerin in Kanada, der überraschenden Beziehung zwischen der 16-Jährigen in Tokio und ihrer 104-jährigen Großmutter, einer ehemaligen Feministin, die Liebesbeziehungen mit zahlreichen Männern unterhielt, und der spannenden Frage, ob sich die Tagebuchschreiberin tatsächlich das Leben nehmen wird. Ein Buch, das voller Tragik und Humor steckt und mit dem man die Zeit nur zu gerne vergisst.
Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick. Deutsch von Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag, 560 S., 19,99 €
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