Unbehagen hat sich breitgemacht. Das Festival Impulse eröffnet seinen zweiten Tag mit einer Performance von Yael Bartana. „Zwei Minuten Stillstand“ ist die Aktion überschrieben. Das Besondere daran: Die Aufforderung an die Kölner Bürger, am 28.6. zwei Minuten stillzustehen, lehnt sich an den israelischen Gedenktag Jom haSho’a, an dem die Israelis zum Gedenken an die Opfer des Holocaust das öffentliche Leben kurz komplett stillstellen.
Als die Pressemeldung herauskam, polemisierte der Kolumnist der „Welt“ Alan Posener sofort dagegen, auch der Kölner Schauspieler Gerd Buurmann machte Front. Und in verschiedenen Blogs entspann sich eine lebhafte Diskussion. Wohlgemerkt: Alles aufgrund eines, zugegeben, nicht glücklich formulierten Pressetextes. Nichtsdestotrotz feierten die Text-Pathologen ein Hochamt der Exegese, bis sich der einfachste Schriftsinn von selbst ergab: Bartana wurde die künstlerische Befähigung abgesprochen, von der Entweihung des Gedenktages war die Rede. Die kausale Verbindung von Holocaust, der Vertreibung der Palästinenser und dem Wohlstand Deutschlands (die wirklich Unsinn ist) wurde kritisiert und dann durfte natürlich auch der Antisemitismus-Vorwurf gegen Bartana nicht fehlen (der genauso dämlich ist). Im Gegenzug erschien auf der Homepage des Projekts eine Liste mit Unterstützern, zu denen neben zahlreichen Künstlern und Politikern auch der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters gehörte.
Das Kunstwerk selbst befand sich zu dem Zeitpunkt noch in statu nascendi. Gesehen hatte es keiner der Kritiker. Musste auch nicht sein. Der Eiferer weiß, lange bevor er mit dem Objekt des Anstoßes in Kontakt kommt, wann und wo sein Feingefühl verletzt ist. Das erinnert an die zahllosen Proteste gegen Filme, welchen Inhalts auch immer, gegen die die vermeintlich Beleidigten vor Kinos Sturm laufen, ohne auch nur eine Minute des Streifens gesehen zu haben. Das Hörensagen reicht. Irritierend aber auch: dass die Kritiker die Performance vorsätzlich mit der Sache selbst verwechselten – nur so ließ sie sich bis zu einer Infragestellung des Staates Israel hochjazzen. Doch darum geht es in Yael Bartanas Arbeiten gar nicht. Die israelische Künstlerin mit Wohnsitz in Berlin nutzt Symbole und Rituale nationaler, politischer oder institutioneller Repräsentation und stellt sie in andere Kontexte. „Zwei Minuten Stillstand“ soll offensichtlich also allenfalls ein Ritual zitieren, um Fragen zu den Formen des Gedenkens, nach den politischen Implikationen der Erinnerung und nach dem Vektor des Innehaltens zu stellen – und das scheint sich vor allem darauf zu richten, dass Deutschland zwar in der deutschen Hauptstadt eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust besitzt, aber keinen offiziellen Gedenktag. Und es fragt möglicherweise auch nach dem Weiterwirken des Holocaust in gegenwärtigen Formen des Antisemitismus und Rassismus. Doch abschließend lässt sich all dies erst nach der Performance beurteilen – und bis dahin sollten auch ihre Kritiker warten.
„Zwei Minuten Stillstand“ | Roncalliplatz, Keupstraße und im ganzen Stadtgebiet Köln | 28.6. 11 Uhr | Diskussion in der Studiobühne: 28.6. 18 Uhr | www.festivalimpulse.de, www.zweiminutenstillstand.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Neuer Name, neuer Anspruch
CoCo wird FiFeCo – Festival 10/16
„Wir nehmen sehr ernst, was die deutschsprachigen Künstler angeht“
Die Impulse Theater-Biennale 2013 ist schon jetzt mehr als ein Festival – Premiere 05/13
Endspurt für Mammut-Projekt
Beethovenhalle kurz vor der Fertigstellung – Theater in NRW 11/24
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Bessere Bezahlung für freie Kunst
NRW führt Honoraruntergrenzen ein – Theater in NRW 08/24
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Demokratie schützen
Das Bündnis Die Vielen ruft zu neuen Aktionen auf – Theater in NRW 05/24
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
Tausch zwischen Wien und Köln
Kay Voges wird Intendant des Kölner Schauspiels – Theater in NRW 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Interims-Intendant für den Neuanfang
Rafael Sanchez leitet ab 2024 das Schauspiel Köln – Theater in NRW 06/23
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Knappheit und Kalkulation
Besucher:innenzahlen am Theater steigen – Theater in NRW 03/23
Gegen Ausbeutung und Machtmissbrauch
Klassenkämpferischer Wind weht durch die Theater – Theater in NRW 02/23
Mehr Solidarität wagen
Die Theater experimentieren mit Eintrittspreisen – Theater in NRW 01/23
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22