Nein, beim Fußball geht es nicht um Leben und Tod. Es geht um mehr. Dieser Allgemeinplatz könnte im Ruhrgebiet erfunden worden sein. Obwohl die Ballsportart mit 22 Spielern auch in anderen Regionen der Republik und anderen Ländern dieser Welt durchaus populär ist, für das Revier ist Pöhlen, Kicken und Bolzen identitätsstiftend. Dies bezieht sich natürlich auf die Vergangenheit, als Zeche, Hütte, Stahlwerk und die dazugehörige Siedlung untrennbar mit dem örtlichen Fußballverein verbunden waren. Aber identitätsstiftend sind auch gegenwärtig die großen und mittelgroßen Vereine des Ruhrgebiets. Besonders der BVB, der mit zwei nacheinander gewonnenen Meisterschaften, dem Pokal- und Meisterschaftsdouble des vergangenen Jahres, der sehr erfolgreich zu Ende gehenden Saison in diesem Jahr und dem mystischen Triumph über Málaga zumindest der Meister der Herzen geworden ist, trägt zu dem Hype maßgeblich bei. Aber auch der Rivale aus dem Nordwesten, Schalke 04, wird von seinen Fans durchaus verdient gefeiert. Und dann gibt es ja noch Bochum, Duisburg, Oberhausen, Essen. Die Vereine in jenen Städten allerdings leiden unter dem Ruhm der Großen. Rot-Weiß Oberhausen oder Rot-Weiß Essen sind nicht groß genug, um ihr Geld mit Bettwäsche und Kaffeetassen zu verdienen.
Zumindest in der 1. Bundesliga sind die Besucherzahlen in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Die Stadien in Gelsenkirchen und Dortmund waren in der vergangenen Saison zu über 99 Prozent ausgelastet. Nur die Bayern konnten dieses Ergebnis toppen und vermeldeten eine 100prozentige Nutzung der Allianz-Arena. Die Polizei hingegen schlug bereits zum Ende der letzten Saison Alarm. Die Gewalt habe signifikant zugenommen. Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste in Duisburg zählte 7.298 Verhaftungen, im Jahr zuvor „nur“ 6.161. Insgesamt habe man fußballbedingt 8.143 Strafverfahren eingeleitet, im Jahr zuvor waren es noch unter 6.000. 1.142 Personen hätten sich im Rahmen der Fußballspiele verletzt, in der Saison 2010/11 waren es hingegen nur 846. „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, stand daraufhin auf einem Banner, das auf der Südtribüne während eines BVB-Heimspiels entrollt wurde. Ob die gestiegenen Zahlen an Verhaftungen und Strafverfahren tatsächlich ein Beleg für mehr Gewalt oder doch eher für mehr ordnungspolitisches Engagement sind, konnte nicht belegt werden. Wie viele der Strafverfahren zu Verurteilungen führten, war der Statistik nicht zu entnehmen. Auch blieb die Frage offen, wie sich die Verletzten verletzten. Durch mehr Polizeipräsenz kann es, so weiß manch erfahrener Demonstrant zu berichten, zu mehr Körperverletzungen kommen. Auch sind erheblich mehr Zuschauer in die Stadien der Bundesligavereine geströmt als im Jahr zuvor. 18,7 Millionen Besucher bevölkerten die Ränge, in der Saison 2010/11 waren es nur 17,4 Millionen. Pro Kopf betrachtet nahm die Gewalt also nicht so stark zu, wie die veröffentlichten Zahlen suggerieren.
Statt Grenzkontrollen werden Fankontrollen durchgeführt
Die Gewalt von Fußballfans ist also zu einem Teil ein Ergebnis der Medienberichterstattung. Die Öffentlichkeit registriert mehr Gewalt in und um die Stadien. Es wird mehr Polizei eingesetzt, und die Regeln verschärfen sich. Dadurch wiederum wird mehr Gewalt provoziert. Dieses Phänomen nutzen manche Politiker, um nach mehr Staatsmacht zu rufen. Die Bundespolizei, die früher Bundesgrenzschutz hieß und seit einigen Jahren nicht mehr annähernd so viele Grenzen schützen muss wie früher, findet an den Wochenenden an den Bahnhöfen neue Aufgaben. Statt Grenzkontrollen werden Fankontrollen durchgeführt. Das Konzept der Fan-Projekte, die sich seit Beginn der 1980er Jahre um eine Deeskalation bemühen, scheint durch diese Entwicklung ad absurdum geführt zu werden.
Die vielstimmige Diskussion um Gewalt überdeckt außerdem zentrale Anliegen der immer selbstbewusster auftretenden Fans. Engagierte Fans haben sich mittlerweile über Vereinsgrenzen hinweg organisiert. Die Aktion „12doppelpunkt12“ forderte im November letzten Jahres mit 12 Schweigeminuten und 12 Schweigesekunden nach Anpfiff aller Ligaspiele vom DFB, nicht über, sondern mit den Fans zu reden, wenn es um Einlasskontrollen, Gästekontingente und das Infragestellen von Stehplätzen geht. Der Bürger, so wurde dadurch deutlich, will nicht nur bei Bahnhofs- und Kraftwerksneubauten beteiligt werden, sondern auch mit am Tisch sitzen, wenn es um Sicherheitskonzepte im Stadion geht. Die Frage, ob die preisgünstigen Stehplätze nicht durch lukrativere Sitzplätze verdrängt werden, zielt dabei auf die Zukunft des Profifußballs. Wird dieser Sport nur noch für die Mittelschicht und mit den VIP-Lounges für die potenten Geldgeber veranstaltet, oder dürfen auch arme Schlucker gucken? Viele Fans haben in ihrer deftigen Sprache schon seit langem die Antwort parat: „Sitzplätze sind für den Arsch!“
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