trailer: Herr Marewski, sind Sie Fußball-Fan?
Rolf-Arnd Marewski: Natürlich bin ich fußballinteressiert, sogar fußballinfiziert. Ich stand in der höchsten deutschen Jugendspielklasse für den BVB schon im Tor. Seit 25 Jahren aber mache ich meinen Kollegen und Klienten hier beim Fanprojekt klar, dass ich kein Fan bin, sondern Sozialarbeiter. Nur so kann ich eine professionelle Distanz halten.
Warum gibt es das Fanprojekt?
Wir haben am 1. August 1988 begonnen, also vor fast 25 Jahren. Damals waren wir in einem kleinen Kassenhäuschen am Stadion untergebracht, sollten eine Alternative zu bloßen polizeilichen Reaktionen auf Gewalt der Fans darstellen. In Bremen und Hamburg gab es bereits solche Projekte, die sich um die Ursachen der Gewalt kümmerten. Auch wir fragten uns, was die Jugendlichen dazu treibt, sich jedes Wochenende die Köppe einzuhauen. Zudem gab es damals die Borussenfront. SS-Siggi habe ich zu jener Zeit kennengelernt.
Die Borussenfront waren Neonazis?
Genau das habe ich versucht zu ergründen. Damals, als Sozialarbeiter mit langem Bart und langen Haaren, bin ich in die Szene rein und hab mich mit den Jungs unterhalten. Ich merkte schnell, dass ich durchaus differenzieren muss. Die Hooligans, die sich in Dortmund Borussenfront nannten, setzten sich aus verschiedenen Leuten zusammen. Viele sagten mir: „Der Siggi labert einfach zu viel. Wir wollen doch nur boxen.“
Warum sind Fußballfans gewalttätig?
Da gibt es sehr viele verschiedene Gründe. Da ist zuerst einmal der Verlust jugendtypischer Freiräume. Aus meiner eigenen Jugend weiß ich, dass Jungs lieber in einer spannenden Umgebung aufwachsen als dort, wo nur Langeweile herrscht. Wir haben damals Äpfel und Pflaumen geklaut, haben Kartoffeln ausgegraben. Vor dem Haus gab es einen Bolzplatz. Gegen die Jungs aus der nächsten Straße haben wir Fußball gespielt. Wenn man sich die Siedlung jetzt anguckt, dann ist vor dem Haus ein wunderschöner Spielplatz für die ganz Kleinen. Daneben gibt es eine wunderschöne Wiese. Und davor steht ein Schild, auf dem steht: „Fußballspielen verboten“. Heute müssen sich Jugendliche ihren Freiraum bei sogenannten Drittortauseinandersetzungen suchen.
Was bitte sind Drittortauseinandersetzungen?
Die Hooligans haben sich aus dem Umfeld des Stadions total zurückgezogen. Man trifft sich mit den Hooligans aus Osnabrück, Münster oder Bielefeld auf einer freien Wiese oder im Wald, um sich gegenseitig auf die Nase zu hauen. Die Polizei lehnt solche Aktionen zutiefst ab. Ich habe mir zu den Hochzeiten des Hooliganismus gewünscht, dass sich diese Jungs aus den Stadien zurückziehen. Bis heute hat sich dieser Wunsch nur zum Teil erfüllt. Einzelne sieht man inzwischen wieder im Stadion.
Fehlende Bolzplätze allein führen aber nicht automatisch zu mehr Gewalt?
Nein, natürlich nicht. Eine weitere Ursache mag darin liegen, dass Jugendliche sich gern beweisen und darstellen möchten, aber kaum noch Chancen dazu haben. Selbstdarstellung wird immer schwieriger. Die Fankultur heute bietet eine Möglichkeit dazu. Früher gab es die Rocker, später die Hippies und dann die Punks. Die waren klar zu erkennen, die haben sich dargestellt. So etwas spielt bei den Fußballfans auch eine Rolle.
Vor ein paar Jahren galt die 1. Liga doch als recht friedlich. Hat sich das wieder verändert?
Bei dem Stellenwert, den die 1. Liga heute medial hat, ist die Situation friedlicher als sie dargestellt wird. Es wird zunächst einmal mehr berichtet über Gewalt von Fußballfans als früher. Außerdem gelten striktere Regeln; viele Fans halten sich sogar an diese immer strengeren Regeln. Auch die Diskussion um die Pyrotechnik hat sich beruhigt.
Aber es gibt doch Probleme mit den Ultras?
Wo gibt es denn keine Probleme im Umgang mit anderen Menschen? Auch die Ultras sind keine homogene Masse. Obwohl sie die Regeln hinterfragt haben, halten sich die meisten daran. Ultras werden oft in der Öffentlichkeit als gewaltbereite Fußballfans dargestellt. Dabei sind die Ultras nicht gewalttätiger als andere Fangruppen. Wir haben die Ultras kennengelernt als intelligente, selbstbewusste Menschen, die die Missstände im Fußball anprangern.
Was prangern sie an?
Zum Beispiel sehen die Ultras den überbordenden Kommerz sehr kritisch. Ihre Proteste dagegen entsprechen dem, was wir schon vor 30 oder 40 Jahren gefordert haben.
Die Ultras sind also nicht automatisch rechts?
Auf keinen Fall. Natürlich gibt es da Ausreißer nach rechts, aber auch nach links.
Machte es Sinn, die ersten 12 Minuten und 12 Sekunden im Stadion zu schweigen?
Natürlich, die Aktion war wirklich aufsehenerregend. Wir vom Fanprojekt haben das unterstützt. Bei dem Marsch bin ich vorweg gelaufen, war der Kontaktmann für die Fans und die Polizei. Ich war auch als Mediator bei den Vorbereitungsgesprächen dabei. Das haben sich die Jungs gewünscht, die hatten Vertrauen zu uns. Genau diese Rolle wollen wir als Fanprojekt einnehmen.
In Donezk hat es nicht so ganz geklappt.
Tatsächlich ist mein Kollege von einem Mitläufer der Neonaziszene zusammengeschlagen worden. Der meinte wohl, im vorauseilenden Gehorsam, allen Demokraten eins aufs Maul hauen zu müssen. Da war es dann auch vorbei mit pädagogischem Verständnis, wir stellten Strafantrag. Gewalt gegen unsere Mitarbeiter können wir nicht tolerieren. Nur so können wir uns in allen Fangruppen frei bewegen.
Aber Nazis betreuen Sie doch nicht?
Doch, natürlich. Wir haben Nazis nie ausgegrenzt. Sobald ich jemanden stigmatisiere, mystifiziere ich ihn auch. Und das kann diese Leute für andere dann tierisch interessant machen. Sobald ich jemanden ganz normal behandle, und dazu gehört selbstverständlich, dass ich ihm seine kruden politischen Vorstellungen vorwerfe, erreiche ich mehr, als wenn ich ihn wegschicke.
Hat der Vorfall von Donezk Spuren hinterlassen?
Sicher, die Südtribüne war vorher eher eine Menschenmasse mit fehlendem persönlichem Bezug zu politischem Extremismus. Da regten sich wenige auf, wenn jemand mal den Arm gehoben hat. Durch den Vorfall in Donezk ist ein schlafender Riese geweckt worden. Mit seiner Tat erzielte der Schläger einen Pyrrhussieg. Letztlich hat der öffentliche Aufruf der Promis, der sich gegen Gewalt und Rassismus im Stadion wendet, die Stimmung gegen rechts noch einmal verstärkt.
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