Vor knapp 50 Jahren, am 10. September 1964, stieg Armando Rodrigues in Köln-Deutz aus dem Zug und bekam Minuten später ein Moped geschenkt. Für den jungen Portugiesen war es vielleicht ein kleiner Schritt. Für die Gesellschaft aber bedeutete es einen sehr großen. Das fast reinrassige Nachkriegsdeutschland wurde binnen weniger Jahre zum Einwanderungsland. Der millionste Gastarbeiter wurde damals gefeiert wie ein Popstar. Erst später, mit aufkommender Massenarbeitslosigkeit und dem Zuzug der Familienangehörigen, traten die Probleme, die während des Wirtschaftswunders ungern wahrgenommen wurden, offen zutage. Der Deutsche Michel fremdelte mit all den Fremden, und die Fremden wollten auch gar nicht mehr gehen. Ein anderes Datum, der 29. Mai 1993, markiert den geänderten Umgang mit den ehemaligen Gastarbeitern. Die Zeit, in der Mopeds verschenkt wurden, war vorbei. Vor 20 Jahren starben bei dem Brandanschlag von Solingen, verübt von rechtsradikalen Jugendlichen, fünf Menschen türkischer Abstammung.
„Die Schlechten ins Kröpfchen, die Guten ins Töpfchen“: Nach dieser Regel möchte die Regierungspolitik verfahren
Das Land hat sich inzwischen wieder stark verändert. Zwei im Bundestag vertretene Parteien werden von Männern mit Migrationshintergrund geführt. Cem Özdemir hat türkische Wurzeln, Philipp Rösler ist in Vietnam geboren. Aber sind wir wirklich so weltoffen, wie dieses Standbild suggeriert? Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union birgt neue Herausforderungen. Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die nach der Südosterweiterung der Union nach Deutschland einwanderten, werden hauptsächlich als Problem wahrgenommen. Anders geht es den jungen Akademikerinnen und Akademikern, die in Folge der Finanzkrise in ihren Heimatländern in Südeuropa und der enormen Jugendarbeitslosigkeit dort auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen. Diese sind willkommen, helfen sie doch, den Fachkräftemangel hierzulande zu lindern.
Die Schlechten ins Kröpfchen, die Guten ins Töpfchen. Nach dieser alten Regel aus dem Märchen Aschenputtel möchte die offizielle Regierungspolitik in Berlin verfahren. Der Bundesinnenminister will, so ging es im vergangenen Monat durch die Presse, EU-Bürger, die die heimischen Sozialsysteme zu Unrecht in Anspruch nehmen, „ohne großes Federlesen rausschmeißen“. Solche markigen Sprüche helfen einerseits, im beginnenden Bundestagswahlkampf im rechten Spektrum nach Stimmen zu fischen. Sie lenken aber auch davon ab, dass der Bund mit seiner Unterschrift unter entsprechende EU-Vereinbarungen das Problem zwar geschaffen hat, die betroffenen Kommunen, die nun vermehrt Sozialleistungen zahlen müssen, aber nicht unterstützen will.
Ganz anders stellt sich die Lage für eine andere Gruppe von Arbeitsmigranten dar. Junge, gut ausgebildete Menschen aus Spanien, Portugal, Italien und Griechenland sind auf unserem Arbeitsmarkt heißbegehrt, weil sie die hier klaffenden Lücken besonders im Gesundheitswesen schließen sollen. Professionelle Arbeitsvermittlungsagenturen suchen im Süden des Kontinents nach den von deutschen Kliniken dringend gesuchten Fachkräften.
Warum wir einen Mangel und Südeuropa einen Überschuss an diesen Arbeitskräften hat, wird selten thematisiert. In den Krisenländern wurde das soziale System erheblich heruntergefahren. Wer sich keinen Arzt mehr leisten kann, darf nicht krank werden. Die Löhne im öffentlichen Gesundheitssektor sanken gleichzeitig rapide. Deshalb wurde der Umzug nach Deutschland für viele junge, flexible Mediziner attraktiv. Jene Menschen werden langfristig in ihren Ländern fehlen. Dies wird eine Gesundung jener Ökonomien erschweren.
Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal hierzulande ist hingegen hausgemacht. Während Fachärzte durchaus ihr Auskommen haben, verdienen Assistenzärzte an Kliniken und auch Hausärzte viel weniger als in einigen benachbarten EU-Ländern. Auch unter deutschen Ärzten setzte in den letzten Jahren eine Wanderbewegung ein. Großbritannien und Skandinavien gelten als El Dorado für Ärzte. Noch dramatischer ist die Situation bei den Pflegeberufen. Durch schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Bezahlung wurden diese Berufe immer unattraktiver. Wenn nun studierte Altenpflegerinnen aus Spanien Hilfskräfte aus Fernost ersetzen, so ist dies ein Gewinn für die Träger der Pflegeheime. Unser Land profitiert also zumindest kurzfristig von der Krise in Südeuropa.
Die „nützlichen“ Europäer sind also erwünscht, die „unnützen“ nicht. Dies aber entspricht in keinster Weise dem europäischen Gedanken. Entweder begreifen wir uns primär als Nationalstaat, dann müssen wir uns sowohl von bösen Bulgaren wie auch von lieben Italienern abschotten und in Kauf nehmen, dass auf deutsche Produkte, die ins europäische Ausland exportiert werden, Zölle erhoben werden. Oder wir begreifen Europa als Chance. Die Freizügigkeit innerhalb Europas kann dem ganzen Kontinent und auch unserem Land helfen. Nach 1989 hatten viele die Sorge, dass das vereinigte Deutschland die Armutsflüchtlinge aus dem Osten und die Ausgleichszahlungen für den Osten nicht bewältigen wird. Heute ist das Land führende Wirtschaftsnation. Solidarität kann ein Wettbewerbsvorteil sein.
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