Wer sich Ende Januar im weltweiten Netz nach dem Unperfekthaus in Essen erkundigen wollte, dürfte weniger Informationen zu dem Treffpunkt für Kreative, Künstler und Neugierige gefunden haben, als vielmehr Meldungen zu Bürgerwehren und besorgten Bürgern sowie Facebook-Posts, die ihre Entrüstung über ein rechtsoffenes UPH ausdrückten.
Im Vorfeld hatte eine lose organisierte Gruppe beschlossen, aus dem virtuellen heraus in den realen Raum zu treten, um sich zu einer Bürgerwehr zu organisieren. Für das erste Treffen im realen Raum hatte die Gruppe das UPH auserkoren und bekundete ihr Interesse, einen Raum zu buchen. Reinhard Wiesemann, Gründer des UPH, ging auf die Gruppe zu und bot an, den Kontakt zur Polizei herzustellen, die die im Entstehen begriffene Bürgerwehr zu Fragen der Sicherheit und des Rechts beraten sollte. Da das Konzept des UPHs von der absoluten Offenheit lebt – ein Treffen der Gruppe wäre automatisch eine öffentliche Veranstaltung für Interessierte, die Presse und auch Gegner gewesen – publizierte Reinhard Wiesemann dazu ein Rundschreiben und schaffte so Öffentlichkeit.
In den sozialen Medien explodierten daraufhin die Meinungsäußerungen. Links orientierte Bürger und Initiativen wie das Bündnis „Essen stellt sich quer“ sahen das UPH in die rechte Ecke abdriften und riefen teilweise zum Boykott auf. Wiesemann sah sich in seiner Unterstützung für die Bürgerwehr falsch verstanden, verwies auf die Nachbarschaftswache in den USA und äußerte sich unglücklich über „Gutmenschen“. Eine Person aus dem eindeutig rechten Lager zündelte verbal mit der Ankündigung, seinen Tele-Schlagstock zum ersten Treffen der Bürgerwehr mitzubringen. Das Netz kochte, eine Demo gegen die Bürgerwehr kündigte sich an, das UPH schloss aus Sicherheitsgründen seine Türen am Freitag, den 22. Januar. Die Bürgerwehr-Gruppe hatte bis dahin noch keinen Raum im UPH gebucht und wird es wohl auch in Zukunft nicht tun.
Es folgten Gespräche von Initiativen mit und über Wiesemann, Kolumnen und Kommentare, Erklärungs- und Entschuldigungsschreiben. Doch trotz vieler Worte hin und her steht noch immer die Frage im Raum, wie wir in unserer Gesellschaft mit gegensätzlichen Meinungen umgehen, wie viel Freiheit, wie viel Pluralität wir dem jeweils anderen zugestehen.
Inzwischen hat sich die Essener Bürgerwehr-Initiative auf Facebook in „Wir für Essen ;-)“ umbenannt und ist zu einer geschlossenen Gruppe geworden. Diskussionen und Kommentare sind nicht mehr öffentlich zugänglich und können daher auch nicht mehr von Nicht-Mitgliedern mitgelesen werden. In den letzten Wochen sind außerdem zahlreiche andere Bürgerwehren entstanden. Unter ihnen und auch unter „Wir für Essen“ befinden sich auch Rechte und Rechtsextreme, die sich nicht an die Regeln des Rechtsstaates halten wollen und die dem Bild einer das Horst-Wessel-Lied grölenden Bürgerwehr nur zu gerecht werden.
Chance vertan
Unter ihnen befinden sich aber auch Bürgerinnen und Bürger, deren Aktivitäten durch Ängste und dem Wunsch nach Sicherheit hervorgerufen werden. Diese Bürger werden ihre Ängste und Sorgen nicht ablegen, indem die „Gegenseite“ sie umgehend als rechte Spinner abtut. Sich vernünftig auszutauschen, die Meinung des Anderen anzuhören, als Ebenbürtige zu diskutieren, ist in dieser Hinsicht hilfreicher und im Grunde auch das, was die links orientierte Seite für sich als Wert beansprucht. Es sollte in unserer Gesellschaft zu ertragen sein, dass Bürgerinnen und Bürger ihre möglicherweise irrationalen Ängste trotz rationaler Argumente beibehalten – sofern ihre Ängste sie nicht zu rechtswidrigen Handlungen treiben. Das ist Pluralismus.
Hätten sich die „besorgten Bürger“ also in dem absolut offenen Rahmen des UPH getroffen, hätte die Chance bestanden, dass sie begleitet von polizeilichem Rat ihre im Netz allzu oft überspitzt vorgetragenen Ängste nicht mit der Gründung einer Bürgerwehr hätten lösen wollen. Man erlaube mir diesen naiven Moment: sie hätten sich vielleicht in einem toleranten Austausch ernst genommen gefühlt und wären sogar an den Wert der Zivilcourage erinnert worden, derer es keiner urdeutschen Vereinsmeierei bedarf, sondern die immer und für alle gilt.
Doch die Chance ist vertan. Stattdessen verhärten sich die Fronten im Netz, radikalisieren sich die, die vorher vielleicht noch gesprächsbereit waren, bestimmen diejenigen die Debatte, die am lautesten schreien beziehungsweise am ausdauerndsten posten. Im Gegensatz zur großen Mitte, die reflektiert diskutieren möchte. Entgegen dem ciceronischen Zitat schreit sie aber durch ihr Schweigen nicht, sondern bleibt einfach ungehört.
Die sozialen Medien bergen demokratische Potentiale, doch im Moment scheint es so, als wäre ein Austausch face to face angebrachter, um den Anderen mit seiner Meinung zu verstehen oder diese auch einfach stehen zu lassen. Am 7. Februar fand im Unperfekthaus das erste UnperfektCamp statt, zu dem jeder eingeladen war, der friedlich in einer offenen Atmosphäre diskutieren möchte. Gekommen waren einige wenige, die sich der Mitte zugehörig fühlen. Was begrüßenswert ist, da sie so nicht schwiegen. Von denen, die eine absolutere Meinung vertreten, war niemand gekommen. Was schade ist, da ihre Meinungen weiterhin und härter werdend entweder im virtuellen oder aber ohne offene Atmosphäre im realen Raum aufeinander knallen. Von einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft keine Spur.
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