In Deutschland ist das Wetter trüb, der Kaffee teuer und die Menschen lächeln selten? Kein Problem – wir im reichen Norden können nahezu nach Belieben in ein sonnigeres oder günstigeres Land auswandern. Doch diese Freiheit gilt längst nicht für alle: Bewohner des globalen Südens stehen oft vor großen Hürden, trotz meist weitaus gewichtigerer Migrationsgründe. Viele Nationen sehen unkontrollierte Einwanderung als Bedrohung ihres erreichten Wohlstandsniveaus. Sie stellen Einreiseregeln auf, beschließen Obergrenzen oder handeln Deals zur Verteilung der Flüchtlingsströme aus.
Die aktuelle Diskussion dreht sich vor allem um den wirtschaftlichen Nutzen der Einwanderung. Doch längst ist auch eine ethische Debatte entstanden: Sind Grenzen Teil der Lösung oder Teil des Problems des globalen Wohlstandsgefälles? Und manch einer wagt zu träumen: Könnte eine grenzenlose Welt eine bessere Welt sein?
Nach Yuval Noah Harari, israelischer Historiker, sind Grenzen „Gehirnwäsche“. Dafür hätten wir das „Bildungssystem, die Propaganda, das Flaggeschwenken“, so Harari 2017 im Magazin Zeit Wissen, „um uns zu überzeugen, dass wir Israelis, Deutsche oder Franzosen sind“.Der Zufall der Geburtbestimmtunsere Bedingungen für ein gelungenes Leben. Aus moralischer Perspektive erscheint also eine grenzoffene Welt, in der jeder Mensch frei über seinen Wohnort entscheiden darf, gerechter.
So ist auch der Schweizer Philosoph Andreas Cassee überzeugt, dass alle Menschen ein moralisch begründetes Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit haben. Wer das Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit akzeptiere, könne kaum der Ansicht sein, „dass die zwischenstaatliche Mobilität beliebig eingeschränkt“ werden dürfe – so Cassee in seinem 2016 erschienen Buch „Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen“.
Aber wie realistisch sind offene Grenzen in einer Welt mit einem so großen Wohlstandsgefälle? Cassee glaubt, eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit sei unter Umständen legitim: um die öffentliche Ordnung und damit die Grundfreiheiten der Menschen zu wahren. Nur die schiere Zahl der Migranten könne die öffentliche Ordnung bedrohen, kaum jedoch alternative Wertvorstellungen anderer Kulturen. Eine solche Gefahr durch Massenanstürme sei im reichen Europa keine Realität.
Eine grenzenlose Welt ist also nur ohne gigantisches Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd plausibel – welches durch den reichen Norden teils selbst verschuldet ist. Eine schrittweise Liberalisierung der Einwanderungspolitik könnte dabei selbst Teil der Lösung sein. Ebenso elementar für eine freie Welt ist eine fairere Welthandels- und Sozialpolitik. Dem Wohlstandsgefälle und auch den mit grenzenloser Bewegungsfreiheit verbundenen Problemen wie dem Klimawandel oder organisierter Kriminalität können wir nur mit einer vernünftigen, globalisierten Politik entgegenwirken.
Eine Welt ohne Grenzen ist also eine Utopie. Doch schon jetzt sollte, so auch Cassee, ein Paradigmenwechsel stattfinden: Gälte ein moralisch begründetes Grundrecht auf Bewegungsfreiheit und bedürfe jede Ausnahme einer Rechtfertigung durch wirklich gewichtige Ansprüche – dann wäre die Welt ein freierer Ort.
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verfassungsblog.de/eine-grenze-ist-eine-grenze-ist-keine-grenze Das journalistisch-akademische Forum diskutiert unter anderem die Frage der Grenzen.
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