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Gesine Schwan
Foto: privat

„Investitionen auch für die ansässige Bevökerung“

31. Januar 2019

Politologin Gesine Schwan über die europäische Flüchtlingspolitik

trailer: Frau Schwan, wo steht die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik?
Gesine Schwan: Sie hat wirklich keine der drängenden Fragen gelöst, weder die normativen, noch die faktisch-politischen. Das liegt meines Erachtens daran, dass die nationalen Regierungen nicht den Mut aufbringen, schwierige Themen offensiv und konstruktiv in ihrer Bevölkerung zu behandeln. Sie glauben, dass sie damit Konkurrenz auf der rechten Seite mobilisieren, was ich für kleinmütig halte. Das hat dazu geführt, dass die Bundesregierung und die EU auf dem Feld der Migrations- und der Flüchtlingspolitik – was ja nicht gleichzusetzen ist, das eine ist auch nicht der Oberbegriff des anderen – nicht nur hinter den Herausforderungen zurückgeblieben sind, sondern sie verletzen auch die Grundwerte, die sie jeden Sonntag propagieren. Das ist nicht nur moralisch schlimm, die historische Erfahrung zeigt, dass sich politische Systeme, deren Vertreter nicht mehr an die Geltung ihrer normativen Grundlage glauben, sich nicht halten können. Das ist für mich eine höchst gefährliche und dramatische Situation.

Sie haben konkrete Vorschläge zur Flüchtlingspolitik gemacht. Wie lauten sie?
Mein Vorschlag besteht im Wesentlichen aus Europäisierung der Asylverfahren, also aus einer Absage an Dublin, das wie wohl von allen erkannt, nicht mehr funktioniert. Ein gemeinsames europäisches Asylverfahren ist meines Erachtens nötig und auch möglich, wobei ich über weite Strecken den Ideen von Gerald Knaus zustimme, der das in den Niederlanden entwickelte Verfahren vorschlägt. Die Asylverfahren dort konnten sehr beschleunigt werden, ohne dabei die Rechtsansprüche der Geflüchteten zu unterminieren. Prinzipiell sollten erstens Geflüchtete Anwälte an die Hand bekommen, und zweitens sollte NGOs der Zugang zu den Verfahren gewährt werden. So kann Transparenz entstehen, die von den Engagierten wahrgenommen wird, dadurch entsteht Vertrauen in die Verfahren.

Der Widerstand dagegen dürfte nicht lange auf sich warten lassen.
Dennoch ist es dringend nötig, wir sehen ja, wie der bisherige Mechanismus etwa in Italien einen wirklich grauenhaften Politiker wie Salvini populär macht. Seinen Rückhalt zieht er aus dem Mangel an Solidarität der europäischen Nachbarn und in seiner Macho-Mentalität, denen mal zu zeigen, was eine Harke ist, demonstriert er die Ohnmacht der Vorgängerregierungen – obwohl er auch keine Lösung hat und stattdessen eine Inhumanität nach der anderen begeht.

Wie ist Populisten der Wind aus den Segeln zu nehmen?
Eine Lösung könnte zum Beispiel sein, dass man die Menschen in den Aufnahmeorten darüber mitbestimmen lässt, ob und wie viele Geflüchtete aufgenommen werden. Und Ungerechtigkeiten müssen überwunden werden, das heißt, dass sowohl die Aufnahme der Flüchtlinge finanziert, als auch notwendige Investitionen für die ansässige Bevölkerung berücksichtigt werden müssen. Mangel an Mitbestimmung und empfundene Ungerechtigkeit sind nämlich die beiden Steine des Anstoßes, anhand derer die Populisten das Feuer schüren und der Bevölkerung vermitteln, sie werde nicht gefragt und zurückgesetzt.

Flüchtlingsaufnahme per Volksentscheid?
Ich bin nicht dafür, dass die Entscheidungen, dort wo sie getroffen werden sollen, nämlich in den Kommunen, durch Ad-hoc-Versammlungen abgesetzt werden sollen. Vielmehr sollte es Stakeholder-Gruppen geben, die offen sein können, so dass man kein Problem mit der Repräsentativität hat, und die die gewählten Entscheider vor Ort beraten: Wie kann die Entwicklung des Ortes aussehen und welche Rolle kann dabei die Aufnahme von Flüchtlingen spielen? Wie viele können aufgenommen werden, was können wir ihnen bieten? Das muss bezahlt werden, und dazu sollten noch einmal Mittel in gleicher Höhe draufgeschlagen werden, so dass auch (als positiver Anreiz) andere Entwicklungsinvestitionen für den Ort damit voran gebracht werden können. Das wäre zugleich eine Zunahme an Partizipation für die Bürger, das brauchen wir als Ergänzung zur bestehenden repräsentativen Demokratie. Ich bin dagegen, die repräsentative Demokratie abzuschaffen, sie ist das beste demokratische Modell, das wir haben, aber wir müssen sie ergänzen und mit mehr Leben erfüllen durch mehr Teilhabe auf der Ebene der Kommunen.

Wie ließe sich dieses Verfahren auf europäischer Ebene koordinieren?
Man könnte den Vorschlag einer verstärkten Zusammenarbeit in Europa machen, so der juristische Begriff. Es würde bedeuten, sich mit einer Reihe von Staaten auf ein gemeinsames Asylverfahren zu einigen. Den Staaten, die es durchführen, muss zugesichert werden, dass die in diesem Verfahren akzeptierten Flüchtlinge von allen teilnehmenden Staaten aufgenommen werden. Gleichzeitig werden die Kommunen eingeladen, sich um die Flüchtlinge zu bewerben und ich glaube, es gibt genügend, die bereit sind, sie auch aufzunehmen. Es gibt überall in den westlichen Demokratien das gleiche Phänomen, nämlich die zunehmende Diskrepanz von Stadt und Land. Man kann diese Politik also mit einer Einladung gerade an kleine Kommunen und Städte auf dem Land verbinden, um diesen damit demografisch zu helfen und alte Orte wieder zu beleben. In Italien ist das fantasievoll und erfolgreich geschehen, bevor Salvini dem einen Riegel vorgeschoben hat.

Theoretiker wie Andreas Cassee treten für eine bedingungslose Öffnung aller Grenzen ein. Was sagen sie dazu?
Ich bin zu alt, um derartige Utopien zu befürworten. Wenn Cassee davon ausgeht, das jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Würde hat, finde ich das richtig, aber daraus die Konsequenz zu ziehen, dass jeder zu jedem Zeitpunkt überall leben können muss, halte ich für eine völlig realitätsferne Vorstellung. Man kann mit Utopien jonglieren, aber das Entscheidende ist die Umsetzung und ich gehe davon aus, dass man eine rechtliche Grundlage braucht, man muss irgendwo hingehören – das kann man nicht nur ethisch formulieren, es muss auch organisiert sein. Da, wo man lebt, muss man auch Ansprüche stellen können und Pflichten übernehmen. Meiner Ansicht nach gilt der Obersatz, dass wir politische und rechtliche Verlässlichkeit herstellen müssen, dazu gehören auch Grenzen. Man muss Grenzen durchlässig machen, aber eine entgrenzte Welt ist eine Welt ohne Verantwortungszuordnung, und davon halte ich nichts.

Cassee argumentiert etwa, dass der Zufall der Geburt nicht das Leben bestimmen sollte.
Diese Forderung hat nicht nur komplexe ethische Vorraussetzungen, sondern auch politische. Sie können den Zufall als Gestaltungsprinzip auf unser Leben nie ausschließen, in unserer Biographie spielen x Zufälle eine Rolle. Das fängt an bei den Eltern, unserem Geburtsort, unserer Konstitution und vielen anderen Faktoren. Zu meinen, man könnte in einer Art Reißbrettaufklärung jedem die exakt gleichen Startchancen bieten, ist völlig lebensfern. Was man tun muss ist, dafür zu sorgen, dassLebensbedingungen nicht so auseinanderklaffen, dass die einen ganz viele, und die anderen gar keine Chancen haben. Im Übrigen ist es ja auch nicht so, dass Menschen einfach leichtfertig die Orte verlassen, an denen sie geboren wurden, auch wenn die materiellen und auch kulturellen Bedingungen dort ungünstiger sind als in Europa. Menschen sind viel komplexer in ihren Motiven zu gehen oder zu bleiben. Eins der Hauptargumente gegen eine globale Bewegungsfreiheit ist meiner Meinung nach Sicherheit – nicht nur Sicherheit an Leib und Leben, sondern auch die Sicherheit, sein Leben frei von Not und Furcht selbstbestimmt führen zu können. Hannah Arendt etwa schrieb aus eigener Erfahrung dass es nichts Schlimmeres gebe, als staatenlos zu sein – was heißt das denn? Es heißt, dass kein Staat dazu verpflichtet ist, für meine Sicherheit zu sorgen. Auch unter der Bedingung der Freiheit muss Sicherheit gewährleistet sein und ich weiß nicht, wer bei völliger Bewegungsfreiheit dafür eine Garantie geben soll.

Hinzu kommen die Vorbehalte der ansässigen Bevölkerung gegen Fremde.
Die Ressentiments und die Aggressivität, die wir aktuell in Europa gegen Fremde erleben, sind aus meiner Sicht eine Mischung aus ererbten Vorurteilen, rassistischen Sedimenten aus autoritären Zeiten, sowie Frustrationserfahrungen wie etwa in Ostdeutschland, aber z.T. auch in Westdeutschland bis hin zu den sozialen Folgen, die 30 Jahre Neoliberalismus mit sich gebracht haben. Also eine Vielzahl von Faktoren, die aus meiner Sicht eine völlig unterschätzte psychische Komponente haben, nämlich im Wesentlichen eine Selbstentwertungserfahrung – und das schafft immer Ressentiments und Hass, entweder Selbsthass, oder Hass gegen andere. Diese Entwicklungen sind deutlich geworden durch die Art, wie die Globalisierung politisch voran getrieben wurde: Nicht im Interesse der Menschen, sondern weitgehend im Interesse derer, die über das Finanzkapital verfügen.

Halten sie Fremdenfeindlichkeit für überwindbar? Oder ist sie eine Konstante?
Manche halten Ressentiments gegen Fremde für eine anthropologische Konstante, Freud zum Beispiel. Er glaubte, dass jeder Mensch Ressentiments gegen andere entwickelt, weil diese unvermeidlich eine Infragestellung seines eigenen Ichs und seines Selbstentwurfes seien. Ich glaube das aber nicht, ich denke, es gibt unterschiedliche Formen von Fremdheitserfahrung. Wenn ich in einem Land wie Indien bin, dessen Sprachen ich nicht verstehe, fühle ich mich fremd, das ist ja klar. Das heißt nicht, dass ich Ressentiments entwickeln muss, aber vielleicht Angst, in dem Maße, wie ich nicht verstehen kann, was um mich herum vor sich geht. Wenn ich dieses Verständnis habe, kann auch die Angst abgebaut werden. Deswegen lege ich auch Wert darauf, dass den Menschen Sicherheit geboten wird, weil es sonst zu noch mehr Ressentiments und Aggressivität kommt. Wir machen ja immer wieder die Erfahrung, dass die Ablehnung von Fremden dort am größten ist, wo kaum welche vorhanden sind. Das heißt, das Problem liegt erst einmal in der Lebensweise der Menschen, die haben auch ihre Verantwortung dafür, aber wenn man es sozialwissenschaftlich angeht: Wenn an einem Ort hundert Menschen das gleiche denken, wird es wohl nicht nur an den einzelnen Menschen hängen. Das muss nicht heißen, dass die Menschen akut in Angst leben, aber sie sehen um sich herum, wie es immer schwieriger wird, und diese Angst befördert immer die Sorge, dass man selbst zu kurz kommt, wenn Fremde dazu stoßen. Wenn soziale Missstände kumulieren, wie bei uns in den letzten Jahren, und dann Flüchtlinge kommen, denen man in ihrer Not helfen muss, was ja richtig ist, aber die Menschen haben das Gefühl, unsere Not hat man vorher nicht gesehen, dann entsteht daraus Wut. Aber das kann man alles analytisch aus den Bedingungen erklären , da muss man keine Konstante draus machen.


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Aktiv im Thema

brot-fuer-die-welt.de/themen/staatenlose | Die Organisation klärt über die Lage staatenloser Menschen auf.
unhcr.org | Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen setzt sich weltweit dafür ein, dass von Verfolgung bedrohte Menschen Asyl erhalten und unterstützt Maßnahmen gegen Staatenlosigkeit.
verfassungsblog.de/eine-grenze-ist-eine-grenze-ist-keine-grenze Das journalistisch-akademische Forum diskutiert unter anderem die Frage der Grenzen.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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Interview: Christopher Dröge

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