Essen, 17. Juli – Schnell wurde Kritik laut, als Mitte Juni einige tausend Menschen in Köln friedlich gegen islamistischen Terror demonstrierten: Wieso so wenig, wo sind sie denn, die MuslimInnen, die sich öffentlich gegen den im Namen ihrer Religion verübten Terrorismus stellen? Lamya Kaddor, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, erklärte auf der Demo, man könne sich nur von etwas distanzieren, zu dem man zuvor eine Nähe verspürt habe. Sie wolle sich vielmehr positionieren und ein Zeichen gegen Gewalt setzen.
Den einen, homogenen Islam und „die“ MuslimInnen gibt es zwar nicht, Kritik am radikalen Islam aus dem Innern der muslimischen Glaubensgemeinschaft organisiert sich aber durchaus. Zum Beispiel in Düsseldorf: Dort wohnen die Gründer des Netzwerks „12thMemoRise“. Seit 2015 macht die Gruppe mit drastischen Aktionen in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. In der Essener Innenstadt stellten sie eine Hinrichtung des sogenannten IS nach und veranstalteten einen fiktiven Sklavenmarkt, wie er unter dem IS in Mossul Realität war. Die Videos zu diesen Aktionen verbreiten sie auf ihrem YouTube-Channel oder dem offiziellen Facebook-Profil, wo sie sich auch langwierigen Diskussionen in den Kommentarspalten stellen.
Ihr Ziel ist es, eine Diskussion innerhalb der muslimischen Community zu provozieren und auf die Gefahren von Strömungen wie dem Salafimus aufmerksam zu machen, in Deutschland personifiziert durch Konvertiten wie Sven Lau oder Pierre Vogel. Bei ihren Aktionen orientieren sie sich an der modernen Filmästhetik, die sich auch der IS zunutze macht, um Jugendliche zu erreichen.
Der deutsch-amerikanische Filmemacher Till Schauder porträtiert „12thMemoRise“ aktuell in seiner Dokumentation mit dem bewusst provokativen Titel „Glaubenskrieger“. Thematisch hat sich der Regisseur schon mehrfach mit dem Islam beschäftigt: Bereits 2008 begleitete er einen amerikanischen Basketballspieler während seiner Spielzeit im Iran für seine Doku „The Iran Job“, die nur vordergründig Sportlerporträt ist und darüber hinaus Einblicke in die iranische Gesellschaft im Jahr der Grünen Revolution bietet. In der Doku „Wenn Gott schläft“ geht es um den iranischen Rapper Shahin Najafi, gegen den 2012 wegen eines satirischen Songs eine Fatwa erlassen wurde und der in Deutschland untertauchen musste.
„Glaubenskrieger“, der auf dem Dok.fest in München Premiere feierte und den ARD-Wettbewerb „Top of the Docs“ gewann, illustriert die Aktionen der Gruppe, zeigt aber auch den Alltag sowie die Zweifel, mit denen die jungen AktivistInnen kämpfen und wie sie dabei von den Anschlägen in Paris, Nizza, Brüssel, Berlin, London oder Manchester beeinflusst werden. Bemerkenswert ist, dass es sich bei „12thMemoRise“ nicht um eine Gruppe säkularer, sondern tiefgläubiger MuslimInnen handelt. Hassan, sein Bruder Muhammed, ihr Freund Ahmed und die erst 19-jährige Araik beten regelmäßig, fasten im Ramadan und schließen Sex vor der Ehe für sich aus. Darüber hinaus illustriert sie der Film als junge Menschen, auf der Suche nach dem für sie richtigen Weg und Platz im Leben.
Bekannt ist „12thMemoRise“, deren Name bewusst auf die in allen drei monotheistischen Weltreligionen heilige Zahl Zwölf anspielt, vor allem in der muslimischen Community – vielleicht auch berüchtigt. Die deutliche Kritik der Gruppe am Schweigen der islamischen Dachverbände zu Terroranschlägen in Europa wurde als so heftige Provokation empfunden, dass die Mitglieder in manchen muslimischen Kreisen öffentlich diffamiert wurden. Unter Nennung ihrer vollständigen Namen bezeichneten sie deutschsprachige islamische Onlinemedien als „CIA-Agenten“, „Zionisten“, „Spione“ und erklärten sie zu „Abtrünnigen“, die so „zum Abschuss“ freigegeben sind, wie im Film erklärt wird. Privat brechen Freunde den Kontakt ab, auch in der Gemeinde gibt es Streit.
Einige dieser „Abtrünnigen“ sind zur Vorführung von „Glaubenskrieger“ auch im Essener Filmstudio Glückauf vor Ort. In der Diskussion zeigt sich Hassan als redegewandter und sympathischer Wortführer, der alle Fragen geduldig beantwortet, auch die kritischen: „Wie soll man den ganzen Islam reformieren?“ oder „Wie wollt ihr diesen Internethype in eine nachhaltige Bewegung überführen?“ – geht's nicht auch eine Nummer kleiner? Hassan erwidert ruhig: „Den ganzen Islam können wir nicht reformieren. Wir wollen bei Muslimen und Nicht-Muslimen Bewusstsein für Kritik am radikalen Islam schaffen. Wir sind im Durchschnitt 23 Jahre alt, unsere finanziellen Mittel sind begrenzt und dafür haben wir schon viel erreicht.“
Andere Fragen sind konkreter, zum Beispiel die nach den Frauen in der Gruppe, die wie im Film gezeigt aktiv mithelfen, aber an diesem Abend fast gänzlich fehlen. „Wir haben tatsächlich überwiegend männliche Mitglieder. Und die Frauen, die sich bei uns engagieren, rücken wir öffentlich nicht in den Vordergrund, denn die Eltern haben Angst um ihre Töchter, aber auch um ihre Kinder allgemein.“ Die meisten Rückmeldungen aus dem Publikum sind aber positiv, einige bedanken sich für den Mut der AktivistInnen und loben, dass sie durch ihr Engagement eine ganze Generation junger Muslime wieder sprachfähig machten. Andere finden, der Film solle in jeder Moschee gezeigt werden.
Neben den bewusst auf der emotionalen Klaviatur spielenden Videos und Aktionen hat „12thMemoRise“ auch konkrete Wünsche an die Politik. „Ein Islam-Gesetz nach österreichischem Vorbild finde ich nicht verkehrt. Die Politik in Deutschland müsste strenger mit Dachverbänden umgehen, die Finanzhilfe aus dem Ausland stoppen, die Imame sollten in Deutschland ausgebildet werden und die deutsche Sprache auch in Moscheen eine Rolle spielen“, führt Hassan aus. Vor allem aber wünscht er sich mehr Unterstützung aus der muslimischen Community. „Gestern in Münster waren nur drei Muslime da. In Bonn wurde unser Vortrag von der muslimischen Gemeinde dort boykottiert. Außer der schiitischen Gemeinde in Essen unterstützt uns niemand.“ Ein wenig Surfen auf den Kanälen von „12thMemoRise“ bestätigt das. Kritik kommt vor allem von MuslimInnen – sofern Nutzername, Profil und theologische Argumentation das für Laien erkennen lassen. Über die üblichen Drohungen hinaus finden dort aber auch lange, sachliche Diskussionen statt.
Wie es weiter geht, ist ungewiss, aber fertig sind „12thMemoRise“ noch lange nicht. Hassan erklärt: „Noch brutaler können unsere Aktionen zwar nicht werden. Aber wir machen weiter. Für uns zählt die Botschaft, dass jede Form des radikalen Islam kritisiert werden muss.“ Und was wünscht sich Hassan vom nicht-muslimischen Teil der Gesellschaft? „Ich verstehe, dass Nicht-Muslime nach allem, was passiert, skeptisch sind. Ich wünsche mir trotzdem mehr Vertrauen und vielleicht ab und an ein nettes Wort.“
Diesen Brückenschlag greift abschließend auch ein Mann im Publikum auf: „Das Kino hätte voll sein müssen! Da frage ich mich nicht, wo sind die Muslime, sondern schaue auf uns als Gesellschaft. Was ist hier los? Wo sind die alle?“. Auch wenn „12thMemoRise“ besonders die muslimische Community ansprechen wollen, erinnert dieses Statement daran, dass Gewalt, egal im Namen welcher Religion oder Ideologie begangen, uns alle angeht und die Gesellschaft als ganze herausfordert.
Der Film ist aktuell in der ARD-Mediathek zu sehen.
Link zum Facebook-Profil: www.facebook.com/12thmemorise
Link zum YouTube-Channel: www.youtube.com/user/12thmemorise
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Netz des Patriarchats
„Days in the Sun“ von Mudar Alhaggi im Theater an der Ruhr Mülheim – Bühne 10/18
Für ein neues Islam-Verständnis
Islam-Symposion des MFD mit Mouhanad Khorchide im KWI Essen am 17.5. – Spezial 05/18
Gegen jede Vereinnahmung
Filmgespräch mit Shahin Najafi zu „Wenn Gott schläft“ im endstation.Kino – Foyer 10/17
„Wer im Namen Gottes tötet, ist kein gläubiger Moslem“
Mouhanad Khorchide über einen fortschrittlichen Islam – Spezial 03/17
Marx und Minirock
Mina Ahadi am 21.9. zum Thema Frauenrechte und Islam im Bahnhof Langendreer – Spezial 09/16
Mittelalterliche Zahlenmystik
Thilo Sarrazin und Wolfgang Bosbach in Gut Mausbeck, Bochum am 19.6.
Liebe, Lust und ungeübte Knutscher
Navid Kermani liest in der Christuskirche am 9.12. – Literatur 12/15
Zusammen HALT !
BIRLIKTE kehrt mit ungebrochener Lebensfreude am Sonntag nach Köln zurück
Es kann nicht nur einen geben
Die vielen Stimmen des Islam – THEMA 06/15 MEINE MOSCHEE
„Noch sind die Moscheen Fremdkörper in den Städten“
Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lale Akgün fordert einen liberalen Islam – THEMA 06/15 Meine Moschee
Krise der Demokratie
Wer den Bau von Moscheen kritisiert, versteht nicht, was es zu verteidigen gilt – Thema 06/15 Meine Moschee
Einer von vielen
Raif Badawi ist immer noch in Haft, die Befreiungskampagne geht weiter
Schund und Vergnügen
„Guilty Christmas Pleasures: Weihnachtsfilme“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Verfilmung eines Bestsellerromans
„Die Mittagsfrau“ im Casablanca Bochum – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23