Das Muslimische Forum Deutschland (MFD), 2015 initiiert, hat sich laut seiner Gründungserklärung das Ziel gesetzt, „humanistisch orientierten Muslimen eine Stimme zu verleihen“. Es gehe unter anderem um die „Etablierung eines Islamverständnisses, das mit unseren Grundwerten und der deutschen Lebenswirklichkeit übereinstimmt“. Bei dem Symposion am 17.5. in Essen trat das MFD neben dem Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) und der Evangelischen Akademie im Rheinland auch als Veranstalter auf. Einer der Mitgründer des MFD, Marwan Abou Taam, zeigte die aktuelle Situation des Islam in Deutschland aus seiner Sicht auf. Abou Taam, promovierter Islam- und Politikwissenschaftler und Terrorismusexperte beim Landeskriminalamt (LKA) Rheinland-Pfalz, präsentierte zunächst Zahlen aus dem Jahr 2009, wonach in der Rhein-Main-Region Werte von 25 Prozent und mehr beim Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund verzeichnet worden waren. Bei Kindern unter zehn Jahren seien es sogar über 30 Prozent. „Der Islam ist ein Element im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung“, führte er aus und verwies darauf, dass in Köln rund 120 Alltagssprachen gesprochen würden, in Stuttgart sogar 170.
Das MFD steht auf dem Standpunkt, dass die vielfältigen theologischen, kulturellen und strukturellen Ausprägungen des Islam von den größten muslimischen Verbänden in Deutschland nicht ausreichend repräsentiert werden. Abou Taam verwies unter anderem auf den im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz gegründeten Koordinationsrat der Muslime (KRM), dem Ditib, der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, der Verband der islamischen Kulturzentren und der Zentralrat der Muslime angehören. „Wenn man sich anschaut, mit wem der Staat den sogenannten Islam-Dialog führt, sind das lauter Orthodoxe“, befand Abou Taam. Bei den Zielen, die die muslimischen Spitzenverbände formuliert hätten, spiele Religion zudem kaum eine Rolle. „Es geht in erster Linie um Politik.“
Abou Taam blickte zurück in die 1960er-Jahre, in denen der türkische Islam durch die Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sei. Die Bezeichnung „Gastarbeiter“ weise nicht auf Integration hin, „und sie war damals auch von beiden Seiten nicht angedacht.“ Die türkischen Arbeitskräfte seien in erster Linie aus Südostanatolien gekommen – „einer Landschaft, in der damals alles verboten war, was jungen Männern Spaß macht“. Sie seien in Großstädten wie Köln damals mit einem völlig anderen Lebensstil konfrontiert worden. Aus dieser Situation heraus sei eine Form des Islams entstanden, die sich vom Rest der Gesellschaft angrenze – spätestens als die jungen Männer ihre Frauen nach Deutschland geholt hätten. „Diese Mauer, die damals gebaut wurde, haben wir bis heute mitgeschleppt“, kommentierte Abou Taam. Der Islam in Deutschland sei seitdem vom türkischen Islam geprägt worden. Erst seit 2013 komme der „Islam der Flüchtlinge“ neu hinzu. In diesem Zusammenhang gebe es eine Herausforderung: „Wenn uns die Integration nicht gelingt, werden uns die altansässigen Muslime die neuen Muslime verderben.“
In einem weiteren Vortrag ging der stellvertretende Sprecher des MFD, Mouhanad Khorchide, konkret auf die moderne Auslegung des islamischen Glaubens ein. Der leitende Professor am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster hat bereits in mehreren Buchveröffentlichungen seine Vision eines aufgeklärten, humanistisch geprägten Islam vorgestellt und damit auch Kritik vonseiten konservativer Muslime auf sich gezogen. „Gehorsam gegenüber den Regierenden ist Teil des Gehorsams gegenüber Gott – das habe ich noch in der Schule lernen müssen“, berichtete der in Saudi-Arabien aufgewachsene Österreicher. Demgegenüber stelle er die Betonung des Freiheitsdenkens des einzelnen Menschen, die sich auch aus dem Koran ableiten lasse. „Freiheit ist eine Grundvoraussetzung der Liebe“, führte Khorchide aus, und die von Gott gewollte Liebe sei nicht nur eine christliche, sondern auch eine koranisch begründete Kategorie. „Es gibt ein Recht auf Selbstbestimmung des Menschen, ohne dass dafür Gott oder die Spiritualität aufgegeben werden müssen.“
Da auf dem Podium keine Gegner der Positionen der MFD vertreten waren und die Veranstaltung insgesamt in kleiner Runde stattfand, verlief die anschließende Podiumsdiskussion wenig kontrovers. Auf die Frage aus dem Plenum, warum die islamische Welt in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft und Politik in den vergangenen Jahren 800 Jahren keine wesentlichen Beitrag mehr zur Entwicklung der Welt geleistet habe, verwies Jörgen Klußmann darauf, dass es nicht „den Islam“ gebe, wohl aber einer sehr dominante konservative Auslegung, vor allem im sunnitischen Islam. „Gottseidank haben wir progressive Strömungen wie das MFD, die sich ganz konkret Gedanken über den Anschluss an die Moderne machen“, betonte der Studienleiter an der Evangelischen Akademie im Rheinland und Islamwissenschaftler, der die Veranstaltung mit einem Vortrag zum Friedenspotenzial monotheistischer Religionen eingeleitet hatte.
Historisch benannte Klußmann den sogenannten „Mongolensturm“, der unter anderem 1258 zur Eroberung Bagdads und dem Untergang des Kalifats der Abbasiden führte, als Einschnitt in der Entwicklung des Islams. „Danach wurden alle kreativen, toleranten Gedanken verdammt“, berichtete er. Die islamischen Gelehrten hätten den Angriff der Mongolen als Gottesstrafe interpretiert. Hieraus ergebe sich bis heute das Problem, dass es keine wirkliche islamische Theologie gebe, ergänzte Abou Taam. „Diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, sind eigentlich Juristen.“ Nach dem Mongolensturm sei die Auseinandersetzung zwischen islamischer Rechtslehre und Philosophie zugunsten der Rechtsgelehrten ausgegangen. „Damit ist man in die Falle getappt, weil man die Denker quasi aus der Debatte ausgeschlossen hat.“
Klußmann gab zu bedenken, dass die rückwärtsgewandte, radikale Auslegung des Islams in den modernen Salafismus münde. Dieser wiederum werde im digitalen Zeitalter über das Internet vor allem an Jugendliche verbreitet. „Hier muss etwas geschehen“, kommentierte Klußmann. Auch Khorchide wies in diesem Zusammenhang noch einmal auf die wichtige Rolle der Theologie hin, die Religion rational reflektieren müsse. „Pierre Vogel kann in 30 Sekunden den Islam erklären“, sagte er in Anspielung auf den Salafisten-Prediger aus dem Rheinland, „ich könnte das nicht.“
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