„Figure a Sea“ ist die erstmalige Koproduktion zweier Ausnahme-Künstlerinnen, die sich bereits seit Jahrzehnten kennen, doch erst bei einem Plausch in einem New Yorker Café über Gott, die Welt und Hüftprobleme im Alter beschlossen, etwas gemeinsam zu machen. Da kam die Anfrage des Stockholmer Cullberg Ballett gerade richtig. Entstanden ist ein beeindruckendes, meditatives Stück, das die Auflösung von Grenzen und Vorstellungen manifestiert. Der Titel „Figure a Sea“ bringt Vielschichtigkeit zum Ausdruck: Er kann ein Meer an Möglichkeiten, aber auch ein Mehr an Imaginationen bedeuten. Hier half der Einführungsvortrag der Berliner Tanz- und Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter. Sie wies darauf hin, dass sowohl Laurie Anderson wie Deborah Hay ihre künstlerische Prägung in den 60er Jahren erhielten, als Experimentelle Kunst und das Prinzip der Partizipation die Postmoderne einleiteten.
Die Bildhauerin, Performance-Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson feierte 1981 mit ihrer von Digitaler Kunst beeinflussten Single „O Superman“ ihren ersten internationalen Erfolg. Später festigten die Multimediaproduktion „Songs and Stories for Moby Dick“ oder der Film „Heart of a Dog“ ihren Ruf als Avantgarde-Künstlerin. Die Tänzerin Deborah Hay war Mitglied des legendären Judson Dance Theatre in New York, das bisherige theoretische und praktische Tanzkonzepte über den Haufen warf. Später nahm sie Alltagsbewegungen in ihre Choreografien auf. Ihr Ziel war, neue Bewegungsmöglichkeiten zu finden, das Potential des menschlichen Körpers zu befragen, die Flüchtigkeit des Daseins wahrzunehmen.
All dies verkörpert „Figure a Sea“: Schon zu Beginn verschwimmt die Grenze zwischen Aufwärmphase und Stückanfang. Der Raum wird erweitert, indem sich die Tänzer über die Tanzfläche hinaus auf der Bühne und sogar im Zuschauerraum bewegen. Die Musik ist flüchtig: Mal gibt sie pointiert Stimmung und Rhythmus vor, mal unterstützt sie sanft, mal setzt sie ganz aus. Gabriele Brandstetter: „Deborah Hay orientiert sich an der Maxime ‚here and gone‘, also wahrnehmen und loslassen. Vorurteile und Vorstellungen sollen fallen gelassen werden. Das ist buddhistisch. Ihr jüngstes Buch heißt ‚My Body the Buddhist‘. Sie sieht den Körper als Lehrer, der immer wieder neue Bewegungen entwickelt“. Ähnliche Anforderungen werden auch an den Zuseher gestellt: Ändere deine Blickrichtung! Lass deine Erwartungen los! Tatsächlich wird man während des Balletts, in dem Bewegung und Erstarrung, Ordnung und Chaos, Synchronizität und Individualität abwechseln, immer wieder darauf verwiesen, herkömmliche Sehgewohnheiten beiseite zu lassen. Wechselvoll wie das Meer mit Wellen, Gischt, Sanftmut und Sturm gestalten die Tänzer ihre Bewegungsabläufe.
Deborah Hays Choreografien spiegeln die Unsicherheit und Angst der Welt wider, so Tanzexpertin Brandstetter. Es gehe darum, die weniger stabilen Bereiche des Seins auszuloten. Das versinnbildlichen die Ensemblemitglieder: Mal tanzen, gehen oder stehen sie zu zweit, mal umschlungen, mal in perfekter Harmonie, dann lösen sie sich wieder voneinander und setzen einzeln ihren Weg fort. Spiegelbild der Beziehungswirklichkeit.
Für Deborah Hay verkörpere der Tanz eine tiefe Ethik des Optimismus, erklärt Brandstetter. Das Beobachten der scheinbar irrationalen Bewegungen führt den Zuseher in eine meditative, fast tranceartige Stimmung. Wie die unergründliche Tiefe des Meeres und die Unendlichkeit der Wellen, so verführt das Cullberg-Ballett in einen Zustand ohne Zeit und Raum. Warmer Applaus dankt den 18 TänzerInnen für ihre einstündige Performance.
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