trailer: Seit die Industriehallen stillstehen, wurde viel Leerraum bespielt. Wie hast Du diese Zeit als DJ wahrgenommen?
Guy Dermosessian: Bochum war für mich ein Paradies, als ich hier ankam. Es gab viel Leerstand und engagierte Leute, die die Stadt in die Hand genommen haben. Die Kulturpolitik hat diese Dynamik nicht erkannt. Sie hat zwar verschiedene Initiativen unterstützt, aber nach dem Gießkannenprinzip. Dadurch ist viel Energie verloren gegangen. Vor neun Jahren waren die Kreativwirtschaft und ihre Aufwertung bestimmter Immobilien durch Kunst und Kultur nicht so omnipräsent.
Viele verbinden mit der Kreativwirtschaft die Hoffnung auf Wachstum...
Allerdings profitiert die lokale Szene nicht von dieser Dynamik. Die Kreativwirtschaft wächst. Sie hat aber aus meiner Sicht noch keine spürbare Auswirkung auf die Lebensqualität hier.
...weil das Angebot nicht ansprechend ist?
Da kommt es auf die Perspektive an und wen das Angebot adressiert. Ein konkretes Beispiel ist für mich der Tresor West in Dortmund: Ältere, weiße Männer haben es für eine vermeintlich diverse Gruppe junger Menschen als Ort der Clubkultur konzipiert. Die Perspektive der Leute, für die es gedacht war, wurde nicht mit einbezogen.
Brauchen wir eine demokratische Kulturpolitik?
Ja, auch inhaltlich. Während der Planung des Musikforums, habe ich dem ehemaligen Kulturdezernenten eine Mail geschrieben. Ich war super jung und so frustriert, dass mitten in der Stadt ein eindimensionaler Ort für viel Geld entsteht. Daher schlug ich vor: „Richtet doch einen Club ein! Da ist die Investition im Rahmen solch einer Baumaßnahme nicht so groß, dafür allerdings der langfristige Effekt. Das konkurriert nicht mit klassischer Musik – ganz im Gegenteil: Dadurch entsteht ein Ort der Begegnung.“ Das wurde einfach ignoriert. Es ist brutal, dass solche Chancen vertan werden. Nur weil bestimmte Entscheidungen in den Händen von Personen liegen, die den Kontakt zur Mehrheit der Gesellschaft komplett verloren haben. Auch ich kann mit meinen 34 Jahren nicht mehr formulieren, was etwa eine junge Subkultur benötigt. Ich müsste auch nachfragen.
Musstest Du dich mit deinem Musikstil durchsetzen?
Angefangen habe ich mit elektronischer Musik. Mit der Zeit wollte ich andere Stile mit einbauen. Dadurch dass ich aus Beirut komme, war ich der arabischen Musik verbunden. Beim Versuch, das zusammenzubringen, kam es zu einem einschneidenden Erlebnis: In einem Club in Hessen wurde ich darauf hingewiesen, dass es kein Soziales Zentrum sei. Bei mir hat das die Frage aufgeworfen, ob die Clubkultur, die sich als offen und inklusiv versteht, nicht auch einer gewissen eurozentrischen Codierung und einem Machtgefälle unterliegt. Das stärkte meine Entscheidung, nichts anderes mehr zu spielen und den Club als Ort der Repräsentation marginalisierter Musik und Kulturen zu nutzen.
Gilt das auch für die Schaffung von Öffentlichkeit?
Eher für die Demokratisierung öffentlicher Institutionen. Diese sollten erkennen, dass es andere Formen der sinnlichen Erfahrungen als die etablierten und teils tradierten gibt. Weg vom Gedanken der Monokultur, hin zu einer Sensibilität für die Diversität und ihren Mikrobewegungen hier und da. Das sehe ich in der Musik, im Tanz, in den darstellenden und bildenden Künsten, aber nur selten in öffentlichen Institutionen.
Viele fühlen sich in dieser Region abgehängt. Welche Chance sieht hier ein DJ, der mit vollen Plattentaschen durch Europa reist?
Die größte Chance ist die gesellschaftliche Vielfalt, die im Ruhrgebiet oft mit der Industrialisierung in Verbindung gebracht wird. Das ist ein unglaublicher Schatz an Erfahrungen, Perspektiven und Zukunftsvisionen. Das vermisse ich hier, wenn ich sehe, dass sehr viele Institutionen noch immer homogen geführt werden. Migration ist dabei nur eine Dimension. Die Verschiedenheit verschiedener Personen werden kaum berücksichtigt. Daher gibt es ein Wissens- und Erfahrungsvakuum in unseren Institutionen. Wie kann es sein, dass diese Chancen nicht wahrgenommen werden? Warum entstehen immer noch exklusive Orte von und für eine kleine Gruppe?
Wie kann ein DJ da einen Wandel anstoßen?
Clubkultur ist in ihrer Tradition ein Akt der Vergemeinschaftung und des Widerstandes. Da besteht der Wunsch, zusammenzukommen. Der Schumacher Club und die Oval Office Bar in Bochum sind für mich gute Beispiele für Orte der Clubkultur, die neue gesellschaftliche und politische Utopien aufwerfen und in der Clubkultur leben. Der oder die DJ sind ein Bestandteil davon.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“
Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24
„Einer muss ja in Oberhausen das Licht ausmachen“
Fußballfunktionär Hajo Sommers über Missstände im Ruhrgebiet – Über Tage 02/24
„Mir sind die Schattenseiten deutlicher aufgefallen“
Nora Bossongüber ihre Tätigkeit als Metropolenschreiberin Ruhr – Über Tage 01/24
„Hip-Hop hat im Ruhrgebiet eine höhere Erreichbarkeit als Theater“
Zekai Fenerci von Pottporus über Urbane Kultur in der Region – Über Tage 12/23
„Das Ruhrgebiet erscheint mir wie ein Brennglas der deutschen Verhältnisse“
Regisseur Benjamin Reding über das Ruhrgebiet als Drehort – Über Tage 11/23
„Kaum jemand kann vom Schreiben leben“
Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut über die Literatur der Arbeitswelt – Über Tage 10/23
„Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches im Ruhrgebiet zu sehen“
Fotograf Henning Christoph über Erfahrungen, die seine Arbeit geprägt haben – Über Tage 09/23
„Für Start-ups sind die Chancen in Essen größer als in Berlin“
Unternehmer Reinhard Wiesemann über wirtschaftliche Chancen im Ruhrgebiet – Über Tage 06/23
„Radikale Therapien für die Innenstädte“
Christa Reicher über die mögliche Zukunft des Ruhrgebiets – Über Tage 05/23
„Das Ruhrgebiet wird nie eine Einheit werden“
Isolde Parussel über Hoesch und den Strukturwandel – Über Tage 04/23
„Gemessen am Osten verlief der Strukturwandel hier sanft“
Ingo Schulze über seine Erfahrungen als Metropolenschreiber Ruhr – Über Tage 02/23
„Im Fußball fanden die Menschen den Halt“
Ben Redelings über die Bedeutung des Ballsports im Ruhrgebiet – Über Tage 01/23
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
„Man könnte es Stadtpsychologie nennen“
Alexander Estis ist für sechs Monate Stadtschreiber von Dortmund – Über Tage 08/23