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Lutz Raphael
Foto: Jan Turek

„Die Repräsentation der Industriearbeit wurde immer weniger“

27. November 2019

Lutz Raphael, Historiker und Autor von „Jenseits von Kohle und Stahl“ über den Abschied vom Malocher – Über Tage 12/19

trailer: Herr Raphael, letzte Woche war hier auf Zollverein der KulturInvest-Kongress, wo es um die Kreativwirtschaft ging. Ist das für Sie ein Weg zu einem „Jenseits von Kohle und Stahl“?

Lutz Raphael: Sicherlich. In den drei Ländern, die ich untersucht habe (Frankreich, Großbritannien und Westdeutschland, Anm. d. Red.), ist es kein Zufall, dass es eine Rückkehr von Kulturschaffenden in diese Räume gab. Interessanterweise finden die Leute, die vorher in den Betrieben gearbeitet haben, das attraktiver, als wenn die Hallen verkauft oder ganz platt gemacht werden. Ich kenne das aus einem Fall in Lothringen. Da waren es die Gewerkschafter, die für den Erhalt ihres Stahlwerks gekämpft haben, damit es wenigstens als Museum erhalten bleibt.

Welche Rolle nimmt die Figur des Malochers und Industriearbeiters in diesem Kontext ein?

Es gibt zwei entgegengesetzte Vorstellungen: In der kulturellen Erinnerung des Ruhrgebiets ist der Bergmann präsenter als der Stahlarbeiter. Es kam also zu einer Musealisierung, was für die älteren Malocher, Veteranen einer alten Industriekultur, die Möglichkeit ist, zu zeigen, wie es denn gewesen ist. Und auf der anderen Seite stehen die, die heute noch industriell tätig sind – etwa im Thyssen-Werk: Die sind unsichtbar geworden. Dazwischen entwickelt sich eine Spannung, die in Regionen wie dem Ruhrgebiet deutlich ist, weil da die Überreste und – zugespitzt formuliert – die Überlebenden der Industriezeit noch präsent sind.

Gibt es Wege, diese Sichtbarkeit wieder zu erreichen? Mir fallen da die Gelbwesten ein, die bewusst ein Kleidungsstück mit einer Signalfarbe gewählt haben

Die Bereiche, die sich jetzt wieder sichtbar machen wollen, haben häufig nur eine geringe Verbindung zu den alten, industriellen Zusammenhängen. Wie in Frankreich unter den Gelbwesten Protest artikuliert wird, nimmt ja militante Formen an. Wenn die, die sich als Arbeiter verstehen, sich nicht richtig wahrgenommen fühlen und sichtbar werden wollen, machen sie das heute eher selten mit Hilfe gewerkschaftlicher Organisation. Aber zum Beispiel als Protestwähler. Es entstehen ganz neue Formen. Dazwischen liegt nämlich eine lange Zeit, in der die Repräsentation der Arbeit – insbesondere der Industriearbeit – immer weniger wurde. Es stellt sich die Frage: „Werden wir von der Politik überhaupt noch gesehen?“

Sie schreiben in ihrem Buch, dass mit der Deindustrialisierung Prekarisierung und Ungleichheit zunahmen. Wo lässt sich das im Ruhrgebiet beobachten?

Jugendliche fanden seltener eine Ausbildung und erfuhren lange Zeiten der Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sich die Zahlen, vor allem in den nördlichen Emschergebieten anschauen, dann haben Sie im Zeitraum nach der ersten Welle der Deindustrialisierung Arbeitslosenquoten von über zehn Prozent oder sogar noch deutlich höher. Prekarisierung habe ich versucht, anhand von Biographien zu untersuchen. Das ist feinteiliger. So kann man sehen, dass für viele die Zeit gewundener Berufskarrieren begann: Ihr erster Beruf führte wegen Werkstilllegung oder Entlassungen nicht mehr weiter und sie mussten sich gewissermaßen neu erfinden – z.B. durch Wechsel in die Logistik. Ob der direkte Einstieg in die neuen Jobs gelingen konnte, war alles andere als sicher. Bei Jüngeren, etwa von 18 bis 28 Jahren, kann man häufig ein „Stop and Go“ zwischen Jobs und Arbeitslosigkeit beobachten.

Wie sehen die politischen Konsequenzen heute aus, wenn sich ArbeiterInnen nicht mehr repräsentiert fühlen?

Natürlich ist eine Lücke entstanden. Ob daraus aber eine dauerhafte Unterstützung antidemokratischer Kräfte hervorgeht, hängt davon ab, ob von den Parteien Repräsentationsarbeit geleistet wird oder nicht. Die Parteien, die sich für diese sozialen Milieus verantwortlich fühlen – allen voran diejenigen mit einer linken Tradition, aber das gilt auch für die CDU mit ihrer Tradition des Sozialkatholizismus – müssen sich erneut um diese Gruppen konkret kümmern. Da ist einfach eine Lücke eingetreten – auch weil die Wunschvorstellung verbreitet war, dass alle automatisch aufsteigen und dass denjenigen, die zurückbleiben, mit Sozialhilfe allein geholfen werden kann. Das hat sich als falsch erwiesen. Mit entsprechenden Anstrengungen ist das jedoch rückgängig zu machen. Es gibt dafür aber meines Erachtens nur noch ein kurzes Zeitfenster. In dem Maße wie rechtspopulistische Programme und Adressierungen an die Leute verfangen, ist der Weg schon schwieriger. Ein Protestwähler lässt sich noch überzeugen. Aber jemand, der schon zwei Mal rechtspopulistische Parteien gewählt hat, ist schwieriger zu überzeugen.

Interview: Benjamin Trilling

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