Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 28 29

12.581 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Lebensfreude und Vielfalt. Auch eine Hip-Hop-Botschaft
Foto: Sean Nel / Adobe Stock

Auf Tilidin in die Charts

07. Oktober 2020

Ist der Hip-Hop schuld am wachsenden Medikamentenmissbrauch?

Anfang September sorgte eine Dokumentation von STRG_F, einem Youtube-Kanal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, für Aufsehen. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen Schmerzmitteln als neues Statussymbol im Hip-Hop und den ansteigenden Zahlen der Schmermittelkonsumenten her. Seit 2017, so die Beobachtung, sind die Verschreibungen des Opioids Tilidin in der Gruppe der 15- bis 20-Jährigen um das Dreißigfache gestiegen. In der gleichen Zeit hat Tilidin eine steile Karriere im Hip-Hop hingelegt. Plötzlich tauchte das Schmerzmittel neben Sportwagen und leichtbekleideten Frauen in den Musikvideos von Gangsta-Rappern wie Capital Bra, Samra oder AK Ausserkontrolle auf. 65 Millionen Klicks haben etwa Capital Bra und Samra mit ihrem Song „Tilidin“ auf Youtube gesammelt. Die Rapper selbst wollten sich dazu nicht äußern. Schon scheint er wieder da zu sein, der böse Hip-Hop als Verführer der Jugend. Doch so einfach ist es nicht.

Medikamentenmissbrauch war in der Popkultur lange kaum ein Thema. Erst im Hip-Hop der 00er Jahre tauchte zum ersten Mal Lean auf, ein Drink bestehend aus verschreibungspflichtigem Hustensaft und Limonade. Seinen Höhepunkt erreichte die Verbindung von Hip-Hop und verschreibungspflichtigen Medikamenten dann im Schicksal des Rappers Lil Peep. Der Rapper war eine untypische Erscheinung für die sonst so vor patriarchalischer Männlichkeit berstende Hip-Hop-Szene. Bunte Haare, dünne Arme und ein volltätowiertes Gesicht waren sein Markenzeichen. Doch nicht nur sein Äußeres war anders. Während im Gangsta-Rap von der eigenen Härte, teuren Autos und dem Leben als Kokain-Dealer erzählt wurde, setzte Lil Peep auch musikalische Kontrapunkte. Er gilt als einer der Wegbereiter des Cloudrap. Auf flächigen Sythie-Beats rappen seine Protagonisten über Depressionen, Trennungsschmerz und dem eigenen, verzweifelten Drogenkonsum. 2017 starb der damals erst 21-Jährige an einer Medikamentenüberdosis.

Drei Jahrzehnte Suchtproblematik

Im gleichen Jahr rief Donald Trump in den USA den Gesundheitsnotstand aus. Die Medikamentensucht hatte sich über die letzten drei Jahrzehnte wie ein Virus durch die amerikanische Gesellschaft gefressen. Hochpotente und schnell abhängig machende Schmerzmittel und Benzodiazepine wurden aggressiv von amerikanischen Pharmakonzernen beworben und für jedes kleinste Wehwehchen verschrieben. Mittlerweile sterben in den USA mehr Leute an Medikamentenmissbrauch als an Heroin und Kokain. In Deutschland ist die Situation zwar bei weitem nicht so dramatisch, trotzdem ist auch hierzulande in den letzten 20 Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Verschreibungen zu beobachten. Schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen gelten als abhängig. Im Hip-Hop erhält die sonst oft als „stille Sucht“ bezeichnete Medikamentenproblematik nun ihren künstlerischen Verhandlungsraum. Was sich über drei Jahrzehnte als Suchtproblematik aufgebaut hat, konnte schlicht nicht ewig vor der Popkultur verborgen bleiben.

So kann man Rapper wie Capital Bra und Samra aus guten Gründen Plumpheit vorwerfen. Ihre Musik für schlechte, aber erfolgreiche Kopien aus den USA halten. Man kann sie außerdem dafür kritisieren, wie unreflektiert sie Schmerzmittel in ihren Songs zum Statussymbol erheben. Für das Problem des Medikamentenmissbrauchs gibt es aber andere Verantwortliche. Wie kann es sein, dass 15- bis 20-Jährige so leicht hochpotente Schmerzmittel verschrieben bekommen? Dafür sind noch immer Ärzte und nicht Rapper verantwortlich. Aber auch die haben sich in der STRG_F-Dokumentation nicht geäußert.


Schmerzbetrug - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema

Aktiv im Thema

www.akdae.de | Der Auftritt der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft mit umfassenden Infos u.a. zu Arzneimittelsicherheit und -therapie.
www.dhs.de | Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. versteht sich als Plattform für bundesweit tätige Verbände und Vereine, die Suchtkrankenhilfe anbieten.
www.bfarm.de | Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte informiert über entsprechende Prüfungs- und Zulassungsverfahren, Forschungen und rechtliche Aspekte.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de

Florian Holler

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mufasa: Der König der Löwen

Lesen Sie dazu auch:

Oh weh!
Intro – Schmerzbetrug

Erste Hilfe beim Einstieg in den Ausstieg
Die Drogenhilfeeinrichtung Kick in Dortmund bietet Betreuung und Konsumräume

Gymnastik mit Gefühl
Der Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie Köln

Die unterschätzte Gefahr
Das Blaue Kreuz Wuppertal zeigt Wege aus der Sucht

„Schmerz hat einen Sinn“
Mediziner Darius Tabatabai über Opioide in Deutschland

„Das sind keine ungefährlichen Substanzen“
Schmerzmittelforscher über Schmerzmittel im Hobbysport

„Naturmedikamente sind nicht harmlos“
Mediziner über Naturheilkunde und Integrative Medizin

Ibuprofen wie Smarties
Fatale Folgen bei unreflektiertem Umgang mit Schmerzmitteln

Heillos
Schulmedizin oder Alternativmedizin? Warum nicht einfach „und“ statt „oder“?

Drogenkranke nicht mehr kriminalisiert
25 Gramm Cannabis pro Person sind seit 2001 eine Ordnungswidrigkeit – Europa-Vorbild: Portugal

Aus Sicht des Betroffenen
Was kein Schmerz aushält – Glosse

Schmerzbetrug

Leitartikel

HINWEIS