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Christoph Stein
Foto: André Wagenzik

„Das sind keine ungefährlichen Substanzen“

14. Oktober 2020

Schmerzmittelforscher über Schmerzmittel im Hobbysport

trailer: Herr Stein, nicht jedes Wehwehchen braucht immer gleich ein Schmerzmittel. Übertreiben wir es inzwischen im Umgang?

Christoph Stein: Eine Erhebung im Correctiv machte das sehr deutlich, dass wir es da schon längere Zeit übertreiben. Gegenstand war eine Umfrage zum Schmerzmittelgebrauch im Fußball, bei AmateursportlerInnen. Dabei kamen erschreckend hohe Zahlen heraus. Viele Schmerzmittel wurden eingeworfen, meistens sogar, ohne dass Schmerz überhaupt aufgetreten war, sondern prophylaktisch vor dem Spiel. Es gibt wahrscheinlich sehr viele FußballerInnen und HobbysportlerInnen, die das einfach so einwerfen, weil das so dazugehört. Das beschränkt sich leider nicht nur auf den Sport, sondern wird sicher auch von vielen anderen Menschen so gehandhabt.

Welche Auswirkungen hatte dieser Konsum?

Aus der Reportage geht hervor, dass diese Menschen, Mitte dreißig, inzwischen an der Dialyse sind, weil durch ihren Schmerzmittelgebrauch die Nieren geschädigt oder ganz zerstört wurden. Das ist äußerst gefährlich. Es ist schon lange bekannt, dass auch alle anderen Schmerzmittel, auch die, die ohne Rezept erhältlich sind, erhebliche Nebenwirkungen haben. Gerade diese nicht-steroidalen Analgetika wie Aspirin und Ibuprofen haben cardiovaskuläre Nebenwirkungen. Da gibt es Fälle von Bluthochdruck, Schlaganfall oder Herzinfarkt, auch Nierenschädigungen können hervorgerufen werden. Magengeschwüre sind allerdings die wohl am meisten vorkommenden Nebenwirkungen. Das sind keine ungefährlichen Substanzen.

„Erhebliche Nebenwirkungen auch rezeptfreier Schmerzmittel“

Wenn ich Schmerzen habe, wie einfach ist es, an hochdosierte Schmerzmittel zu kommen?

Das ist nicht allzu schwierig. Es gibt zwar in Deutschland das sogenannte Betäubungsmittelgesetz. Aber jeder hat die freie Arzt- und Apothekenwahl. Für den Arzt sind besondere Rezeptformulare nötig, die er beantragen muss. Er hat damit schon eine gewisse Überwachungsmöglichkeit darüber, wie viele Medikamente verschrieben werden. Doch Personen, die solche Substanzen oder Medikamente brauchen oder vielleicht sogar schon süchtig sind, gehen nicht nur zu einem Arzt. Sie gehen zu zehn verschiedenen und lassen sich zehn verschiedene Betäubungsmittel aufschreiben. Diese lösen sie wiederum in zehn verschiedenen Apotheken ein. Sie wissen, wie das geht.

Wie lässt sich Medikamentenmissbrauch stärker eindämmen?

Es könnte eine zentralisierte Dokumentation erfolgen, die das besser reguliert. Über die elektronische Patientenakte wird schon diskutiert. In diesem Zusammenhang gibt es noch viele Probleme mit Datenschutz usw. Doch sobald dieser Ansatz gut funktioniert – noch stehen wir da am Anfang – würde daraus auch hervorgehen, wie viele Opioide verschrieben und auch tatsächlich aus der Apotheke abgeholt werden. Das wäre eine der Möglichkeiten. Eine weitere sehr wichtige wäre die Patientenaufklärung. Die ÄrztInnen müssen wissen, was sie da verschreiben und wie viel und vor allen Dingen, für welche Patienten und Patientinnen. Das größte Problem ist, dass Opioide in Deutschland und in vielen anderen Ländern für die falschen Indikationen verschrieben werden. Das berühmteste Beispiel ist der Rücken- oder auch der Kopfschmerz. Es wissen einfach nicht genug ÄrztInnen, dass diese sogenannten Nicht-Tumorschmerzarten, also Schmerzen bei Nicht-KrebspatientInnen, überhaupt nicht geeignet sind für eine Opioidtherapie.

„Das größte Problem: Opioide werden für die falschen Indikationen verschrieben“

Was sehen Sie als Ursache dafür?

Die mangelnde Fortbildung der ÄrztInnen, die mangelnde Aufklärung der PatientInnen und der Einfluss der Pharmaindustrie.Die USA sind da das Paradebeispiel. Perdue war die erste Firma, die dort vor 20 Jahren in diesen Markt eingestiegen ist, gefolgt von Johnson & Johnson. Sie haben solche Substanzen aggressiv beworben. Hierzulande wissen wir auch, wie dieser Mechanismus funktioniert: Der Pharmavertreter kommt in die Praxis oder ins Krankenhaus und erzählt den ÄrztInnen, wie gut das Medikament ist. Wenn das Medikament verschrieben wird, erhält der Arzt Prämien. Die ÄrztInnen werden zum Wochenende und zum Essen eingeladen usw. Das sind alles Mechanismen, die schon lange Zeit bekannt sind und die gerade bei dieser Opioid-Krise in den USA eine sehr große Rolle gespielt haben. Gegen den Einfluss der Pharmaindustrie ließe sich tatsächlich auch gesetzlich vorgehen. Doch auch hier gibt es wie in der Tabakindustrie verschiedene Lobbygruppen. Deutschland beispielsweise war das letzte Land, in dem Tabakwerbung bis vor Kurzem auf der Straße noch erlaubt war. Erst vor zwei Monaten wurde ein Gesetz verabschiedet, dass sie verbietet. Da könnte man ansetzen. Denn Opioid-Werbung ist genauso ein Problem wie Tabakwerbung. In Deutschland ist es völlig legal, Opioid-Werbung in Ärztezeitschriften zu schalten. Sie können sich jede beliebige Fachzeitschrift ansehen: In jeder Ausgabe sind fünf ganzseitige Anzeigen für Opioide drin. Das könnte man gesetzlich beeinflussen.

Müssen wir auch stärker nachsteuern, was aggressives Marketing der Medikamentenhersteller in Bezug auf rezeptfreie Arzneien angeht?

Auf jeden Fall, uneingeschränkt für alle Schmerzmittel.

„Mangelnde Fortbildung der ÄrztInnen, mangelnde Aufklärung der PatientInnen“

Benzodiazepine, Opiate, Opioide etc. Welche Folgen nehmen KonsumentInnen in Kauf? Wo liegen die Gefahren?

Bei Opioiden ist die Gefahr ganz klar die Atemdepression: Die Atmung wird langsamer, die Person wird kurzatmig und leidet unter Luftnot. Die Kombination zwischen Benzodiazepinen und Opioiden ist natürlich sehr gefährlich, da sowohl die sedierenden Nebenwirkungen als auch die Atemdepression verstärkt werden. Benzodiazepine sind Schlafmittel. Opioide haben die gleiche Wirkung in höherer Dosierung. Wenn man das kombiniert einnimmt, wird es noch schlimmer. Der Mensch geht ein sehr hohes Risiko ein, diese Kombination versehentlich überzudosieren. Das passiert auch Opioid-Abhängigen, die von Heroin abhängig sind. Sie spritzen sich auch manchmal aus Versehen zu viel. Das kommt nahezu täglich vor. Über dieses Risiko sollte man sich im Klaren sein.Daneben gibt es auch viele andere Nebenwirkungen. Die Suchterzeugung kann sehr schnell eintreten. Dafür muss man diese Substanz nicht monatelang einnehmen. Das kann auch schon nach einigen Wochen passieren. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen dazu, die das nachgewiesen haben. Bei anderen Nebenwirkungen kann man sich überlegen, ob sie gefährlich sind, wie etwa Verstopfung. Das ist zwar sehr unangenehm, aber zum Glück nicht lebensbedrohlich.

Besteht eine Gefahr, auf härtere Drogen umzusteigen?

Das Risiko ist bei allen Substanzen, ob legal oder illegal, vorhanden. Man muss in jedem Fall konstatieren: Starke Opioide kann man als Einstiegsdroge betrachten.

„Einfluss der Pharmaindustrie“

Wie weit sind wir von einer vergleichbaren Opioid-Krise wie in den USA entfernt?

Wir sind – was den Gesamtgebrauch angeht – schon ziemlich nah dran. Laut eines aktuellen OECD-Berichts von 2019 steht der Gesamtgebrauch von Opioiden in Deutschland an zweiter Stelle nach den USA. Kanada kommt sogar erst hinter Deutschland. Es gibt natürlich Unterschiede zwischen den Ländern. Dazu muss man das gesamte Gesundheitssystem im Blick haben: Versicherungsstatus, Zugang zur Suchtbehandlung.Was solche PatientInnen brauchen, wenn es einmal ernst wird, ist eine Suchtbehandlung. Sie müssen entzogen werden. Das sehen wir zum Beispiel auch bei vielen unserer PatientInnen, die zu uns in die Schmerzklinik kommen. In diesem Kontext gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. In Deutschland ist fast jeder Mensch krankenversichert, in den USA hingegen nicht. Dort gibt es dann viele PatientInnen, die sich eine Suchtbehandlung überhaupt nicht leisten können. Das Problem wird bei diesen PatientInnen dann immer schlimmer, und schließlich sieht man die Leute auf der Straße sterben. In Deutschland passiert das nicht. Deshalb geht man hierzulande von keinem so großen Problem aus. Der Gebrauch ist genauso da, und das ist bedenklich.

Müssen wir auch schon bald den Gesundheitsnotstand ausrufen?

Notstand würde ich es nicht nennen, aber ich denke, man muss das Problem ernst nehmen. So weit zu gehen zu sagen: „Da brauchen wir uns nicht drum zu kümmern, weil wir in Deutschland so tolle Gesetze haben und das Betäubungsmittelgesetz dafür ausreicht“, das glaube ich nicht.

 

Aktiv im Thema

www.akdae.de | Der Auftritt der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft mit umfassenden Infos u.a. zu Arzneimittelsicherheit und -therapie.
www.dhs.de | Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. versteht sich als Plattform für bundesweit tätige Verbände und Vereine, die Suchtkrankenhilfe anbieten.
www.bfarm.de | Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte informiert über entsprechende Prüfungs- und Zulassungsverfahren, Forschungen und rechtliche Aspekte.

 

Interview: Nina Hensch

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