„Gib mir Tilidin, ja, ich könnte was gebrauchen“, heißt es in einem populären Song der Rapper Capital Bra und Samra. In den vergangenen Jahren wurde der missbräuchliche Konsum des Schmerzmedikaments im Deutschrap immer wieder offen zur Schau gestellt. Gleichzeitig hat in der jugendlichen Zielgruppe der Tilidinkonsum rasant zugenommen. Aber nicht nur bei Teenagern ist Medikamentenmissbrauch ein Problem.
In Wuppertal setzt sich mit dessen Gefahren das Blaue Kreuz auseinander, – eine Hilfsorganisation für Suchtkranke in Trägerschaft der Diakonie. Das Blaue Kreuz bietet Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, aber auch stationäre Einrichtungen wie Wohnheime an und hat zudem in Barmen seine Bundeszentrale. „Die verschiedenen Angebote gehen oft Hand in Hand miteinander“, sagt Sozialpädagogin Fabienne Kroening. Sie erklärt: „Wir beschäftigen uns mit Menschen, die eine Suchtproblematik im legalen Bereich haben.“ Zum größten Teil hätten diese Menschen Probleme mit Alkohol. Sehr häufig käme noch eine weitere Abhängigkeit hinzu, etwa nach Cannabis oder eben nach Medikamenten. Beim Blauen Kreuz beschäftige man sich auch mit den Auslösern für die Sucht: „Unsere Klienten berichten davon, dass sie gezielt versuchen, traumatische Erlebnisse zu verdrängen und sich selbst zu dämpfen oder Schmerz zu unterdrücken“, erzählt Kroening. Man versuche dann, alternative Lösungsstrategien zu finden.
Sozialarbeiterin Elke Zulkowski erläutert, man arbeite „im Hier und Heute“ und schaue, „was derjenige in seinem Alltag verändern möchte und kann, damit er zufriedener wird und das Suchtmittel nicht mehr braucht“. In diesem Zusammenhang sei auch der Austausch in den Selbsthilfegruppen bedeutend. Außerdem werde gemeinsam überlegt, „ob eine ambulante Entgiftung stattfinden kann oder eine stationäre nötig ist.“ Eine Droge schlagartig abzusetzen, sei meist nicht ratsam: „Es ist keine gute Idee, direkt von 100 auf 0 zu gehen.“ An eine Frau erinnert sich Zulkowski noch genau: „Sie nahm 27 verschiedene Medikamente. Da waren ihre Blutdrucktabletten, auf die sie auch angewiesen war, aber auch Schmerz-, Schlaf- und Aufputschmittel. Im Krankenhaus musste man dann gucken, welches Medikament als erstes abgesetzt wird und welche Auswirkungen das für den Körper hat. Es war wie ein Puzzle. Sie war über ein halbes Jahr im Krankenhaus.“
Die heimliche Sucht
Zulkowski warnt auch, vielen Menschen, die beim Blauen Kreuz Hilfe suchten, sei gar nicht bewusst, dass sie von Medikamenten abhängig sind: „Wenn wir nicht abfragen würden, welche Medikamente unsere Klienten regelmäßig nehmen, würden sie auch nichts davon erzählen.“ Das soziale Umfeld des Süchtigen bemerke es oft ebenfalls nicht: „Es ist eine heimliche Sucht: Man fällt unter Medikamenteneinnahme nicht so auf wie, wenn man eine Alkoholfahne hat.“ Häufig werde der Missbrauch von Medikamenten auch unterschätzt, fährt die Sozialarbeiterin fort: „Das Bewusstsein, dass es ein Problem ist, ist oft gar nicht da. Medikamente werden entweder als frei verkäuflich, und somit als harmlos, oder als ärztlich verschrieben, und somit als notwendig, angesehen. Man kann aber sowohl von frei verkäuflichen, als auch von verschriebenen Medikamenten eine Abhängigkeit entwickeln.“ Zulkowski findet, es müsse bewusster mit Schmerzmitteln umgegangen werden, nach dem Motto „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Das gelte auch für Ärzte und Apotheker.
Mittlerweile bereut übrigens selbst Capital Bra. Im Gespräch mit dem Reportageformat STRG_F warnt er, Tilidin mache „den Kopf kaputt“ und während des Entzugs habe er dagesessen „wie ein vercrackter Junkie“.
Aktiv im Thema
www.akdae.de | Der Auftritt der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft mit umfassenden Infos u.a. zu Arzneimittelsicherheit und -therapie.
www.dhs.de | Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. versteht sich als Plattform für bundesweit tätige Verbände und Vereine, die Suchtkrankenhilfe anbieten.
www.bfarm.de | Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte informiert über entsprechende Prüfungs- und Zulassungsverfahren, Forschungen und rechtliche Aspekte.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Oh weh!
Intro – Schmerzbetrug
Erste Hilfe beim Einstieg in den Ausstieg
Die Drogenhilfeeinrichtung Kick in Dortmund bietet Betreuung und Konsumräume
Gymnastik mit Gefühl
Der Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie Köln
„Schmerz hat einen Sinn“
Mediziner Darius Tabatabai über Opioide in Deutschland
„Das sind keine ungefährlichen Substanzen“
Schmerzmittelforscher über Schmerzmittel im Hobbysport
„Naturmedikamente sind nicht harmlos“
Mediziner über Naturheilkunde und Integrative Medizin
Auf Tilidin in die Charts
Ist der Hip-Hop schuld am wachsenden Medikamentenmissbrauch?
Ibuprofen wie Smarties
Fatale Folgen bei unreflektiertem Umgang mit Schmerzmitteln
Heillos
Schulmedizin oder Alternativmedizin? Warum nicht einfach „und“ statt „oder“?
Drogenkranke nicht mehr kriminalisiert
25 Gramm Cannabis pro Person sind seit 2001 eine Ordnungswidrigkeit – Europa-Vorbild: Portugal
Aus Sicht des Betroffenen
Was kein Schmerz aushält – Glosse
Immer in Bewegung
Teil 1: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Jenseits der Frauenrolle
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Zusammen und gegeneinander
Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Europa verstehen
Teil 1: Lokale Initiativen – Initiative Ruhrpott für Europa spricht mit Jugendlichen über Politik
Zu Gast in Europas Hauptstadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
Verbunden über Grenzen
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertal und seine europäischen Partnerstädte
Korallensterben hautnah
Teil 1: Lokale Initiativen – Meeresschutz im Tierpark und Fossilium Bochum
Was keiner haben will
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Unternehmen Plastic Fischer entsorgt Plastik aus Flüssen
Wasser für Generationen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Wupperverband vernetzt Maßnahmen und Akteure für den Hochwasserschutz
Orientierung im Hilfesystem
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Opferschutzorganisation Weisser Ring in Bochum
Hilfe nach dem Schock
Teil 2: Lokale Initiativen – Opferschutz bei der Kölner Polizei
Häusliche Gewalt ist nicht privat
Teil 3: Lokale Initiativen – Frauen helfen Frauen e.V. und das Wuppertaler Frauenhaus
Kaum entdeckt, schon gefährdet
Teil 1: Lokale Initiativen – Artenschutz und Umweltbildung in der Zoom Erlebniswelt Gelsenkirchen