Nicht mehr, aber auch nicht weniger: Niele Toroni zeigt Abdrücke eines Pinsels in einer der Primärfarben. Er hat sie in der gleichen Größe (Pinsel Nr. 50) auf einer neutralen Fläche im Abstand von 30 cm horizontal nebeneinander und versetzt übereinander aufgetragen, sodass sie sich zu Feldern zusammenschließen. Die Bildträger sind Leinwände, Papierbögen, Zeitungsseiten und sogar Glasscheiben, aber auch die Wände der Ausstellungsräume mit ihren Säulen: Fast ist es ein bisschen viel, was Toroni für seine Ausstellung im Siegener Museum für Gegenwartskunst geschaffen hat. Plötzlich aber werden dem Betrachter Details der Architektur bewusst, an denen er zuvor achtlos vorbeigelaufen ist. Und kein Abdruck ist wie der andere, auch wenn sie mit der immer gleichen Intensität präzise wie ein Uhrwerk aufgetragen sind; die Abdrücke sind mit der Hand – also als einzigartige Ereignisse – von ihm selbst ausgeführt worden. Niele Toroni vergleicht sie mit Bäumen, die alle gleich ausschauen, aber niemand würde da in Frage stellen, dass jeder ganz eigen ist, und er ergänzt: „Wie alles im Leben.“
Mit seiner bildnerischen Regel der Pinselabdrücke ist der 1937 im Schweizer Kanton Tessin geborene, in Paris lebende Künstler berühmt geworden. Dass sie tatsächlich ein überzeugendes Gleichnis für unser Leben darstellen – sowohl in ihrem repetitivem Rhythmus als auch der Verschiedenheit und Individualität – ist das eine, das andere ist die Konsequenz, mit der Toroni seit exakt 50 Jahren so arbeitet. Die Malereien, die er (neben den transportablen Gemälden) an den unterschiedlichsten Orten auf der ganzen Welt vorgenommen hat, ergeben nebenbei auch eine nachvollziehbare Spur seiner Reisen. Einsetzend zu Zeiten einer gewissen „Bildermüdigkeit“, in der Malerei verpönt war, definiert Niele Toroni seit 1966/67 dieses althergebrachte Medium von seinen Bestandteilen aus neu. Der „realistische“ Gegenstand zwischen den Farbmarkierungen ist nicht mehr erforderlich. Es passiert mehr als genug. Für dieses einzigartige Lebenswerk hat er nun den Rubenspreis für (europäische) Malerei in Siegen erhalten. Seine dazugehörige Ausstellung ist eine Retrospektive mit Werken seit 1979 und schon von daher eine einmalige Gelegenheit, die Facetten seiner Arbeit kennenzulernen. Den Begriff des Künstlers lehnt Toroni übrigens ab und bevorzugt stattdessen „Maler“ als Berufsbezeichnung für die physische Handlung mit einem festen Arbeitspensum, dessen Ergebnisse zu sehen sind. Und dann kann man die Abdrücke als einzelne betrachten oder man tritt zurück und stellt Zusammenhänge her zu geometrischen Formen oder etwa zur piktogrammartigen Darstellung eines Gesichts, so wie Niele Toroni das sogar einmal auf den Böden von Weinfässern in Bordeaux vorgenommen hat. Humor schwingt bei aller Ernsthaftigkeit und Konsequenz doch immer noch mit.
„Niele Toroni – 13. Rubenspreis der Stadt Siegen“ | bis 15.10. | Museum für Gegenwartskunst Siegen | www.mgk-siegen.de
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